Coronajahre 2020–21

Der folgende Beitrag ist ein Rückblick aufs Jahr 2020 mit Fokus auf die Coronakrise – sowie ein Leitfaden zur Auseinandersetzung mit einem so komplexen, vielschichtigen Weltgeschehen wie es diese Krise eben ist. Gleichsam soll dieser Beitrag ein Ausblick sein. Denn wenn uns die Gegenwart im digitalisierten und globalisierten 21. Jahrhundert eines lehrt, dann, dass das Weltgeschehen fortan immer komplexer wird – weil wir ständig auf Sendung sind und sich alle Vorgänge zu beschleunigen scheinen. | Longread 📖

Auf einmal scheint die Normalität unser höchstes Gut, nie hatten wir ihr diese Bedeutung beigemessen, und wenn wir es genau bedenken, wissen wir nicht einmal genau, was sie ist: Sie ist das, was wir wiederhaben wollen.

Paolo Giordano: In Zeiten der Ansteckung, 75

Hinweis: Hier ist der Beitrag als PDF verfügbar. Auf YouTube ist dieser Beitrag als Video verfügbar.

Vorwort

Wenn so viele Dinge so rasant im Gange sind, kommt keiner mehr mit. Bis Zehn zählen ist einfach. Doch zähl’ mal zehn Bälle, wenn sie gerade jongliert werden. 🤹 In einer Manege voller Clowns und wilder Tiere, die um deine Aufmerksamkeit buhlen. Mal geht ein Ball verloren, mal landet ein neuer im Spiel. Mal wird ’ne Seiltänzerin getroffen und fällt ins Netz – mal gibt es kein Netz. Und doch sind alle miteinander verbunden. Ein solcher Zirkus ist das Weltgeschehen. Über 7,78 Milliarden Menschen, die ihre kleinen und großen Ziele verfolgen, sich mal gegenseitig helfen und noch öfter einander im Wege stehen. Noch nie hat’s ein Thema gegeben, dass derart viele Leute rund um den Globus aus ihrem Alltag reißt und Beachtung von uns allen einfordert, wie die Coronakrise zu Beginn der 2020er Jahre.

Jetzt hätten wir alle eigenen Ziele hintenanstellen und an einem Strang ziehen müssen, weil von einem der wilden Tiere ein Virus übergesprungen sein soll. Stattdessen herrscht Trubel auf unserer blauen Kugel, die selbst wie ein Jonglage-Ball durchs All saust. Kein Wunder, denn wir Menschen haben alle unsere eigene mehr oder weniger unscharfe Sicht auf die Dinge.

📍 Das Ziel dieses Beitrags ist eine Art Aussichtsplattform zu bilden, um das Geschehen grob zu überblicken. Das Thema Corona kann dabei nicht komplett in seine Einzelteile zerlegt werden. Es soll nur soweit ins Detail gehen, wie es zum Verständnis nötig ist.

Ziel des Beitrags

Ich möchte Klarheit darüber erhalten, was es mit SARS-CoV-2 und COVID-19 auf sich hat, welche Auswirkungen das Virus und die Krankheit auf einzelne Menschen und die Gesellschaft haben können. Und zudem, wie ich mir als Laie – ohne eine Naturwissenschaft studiert oder mich zuvor für Mikrobiologie interessiert zu haben – eine informierte Meinung zur Coronakrise bilden kann.

Doch die Wissenschaft soll nicht der einzige Zugang zur Wirklichkeit sein, der hier bedacht wird. Vielmehr geht es ebenso darum, wie »Philosophie in Echtzeit« helfen kann. (Vgl. Nikil Mukerji, Adriano Mannino: Covid-19: Was in der Krise zählt. Über Philosophie in Echtzeit.)

Im Zuge dessen werden auch grundlegende Begriffe erklärt, Fragen gestellt und Methoden erprobt, wie sich Antworten finden lassen. Etwa darauf, wie ich mich verhalten und wie ich handeln soll, als Teil einer Gesellschaft in Zeiten der Krise.

Globale Probleme

Immerhin: So gespalten die Gesellschaft von Land zu Land und Thema zu Thema sein mag, so vereint ist die Weltgemeinschaft im Ganzen. Zumindest auf dem Papier. Vor 75 Jahren entstand die bis dato größte zwischenstaatliche Organisation. Sie umfasst 193 Mitglieder, genannt: die Vereinten Nationen (englisch: United Nations Organization, kurz: UNO). 🇺🇳

Dieser Zusammenschluss von Staaten hat sich der Aufgabe angenommen, die Welt ein wenig besser zu machen – mit umstrittenem Erfolg. Bei aller berechtigten Kritik können Lösungen nur mithilfe von Reformen gefunden und umgesetzt werden. Denn die Alternative zu einer irgendwie gearteten globalen Kooperation wäre halt keine globale Kooperation. Das wäre keine wirkliche Alternativ, angesichts globaler Probleme wie einer Pandemie. (Oder einer Plandemie, also geplanten Pandemie, wie über die Coronakrise von manchen gedacht wird. Doch auch ein solches Szenario wäre ein Problem von globaler Größenordnung.)

Damit komme ich zu drei Grundannahmen. Ich will versuchen, mir das Thema Coronakrise möglichst unvoreingenommen begreiflich zu machen und aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Trotzdem sind in den rund 30 Jahren, die ich nun am sozialen Leben auf Planet Erde teilnehme, ein paar Gewissheiten bei mir eingesickert und zum Fundament meiner Weltsicht geworden. Drei davon erscheinen mir für diesen Beitrag relevant.

Grundannahmen

Erste Grundannahme. Es gibt Probleme, die alle Staaten der Welt betreffen und die sich, wenn überhaupt, nur durch internationale Organisationen und Zusammenarbeit auf globaler Ebene lösen lassen. Die Coronakrise ist ein solches Problem.

Zweite Grundannahme. Es gibt eine ungeheure Anzahl von Handelnden, die am Weltgeschehen mitwirken. (Sämtliche Menschen, Firmen, kleine und große Gruppierungen, Organisationen und Regierungen, etc.) Sie alle verfolgen eigene, teils einander entgegengesetzte Ziele.

Was uns die Geschichte lehrt

Deshalb ist das Geschehen so komplex, wie uns – ich sagte es bereits – die Gegenwart lehrt. Die Geschichte wiederum lehrt uns, dass in dem Geflecht unzähliger Handelnder und ihrer Ziele die Regel gilt: Je weitreichender ein Vorhaben, desto wahrscheinlicher sein Scheitern. Das würden die Oberhäupter vergangener Weltreiche unterschreiben. 𓀃 Und ich weiß ja selbst am besten, wie häufig meine Vorhaben durchkreuzt werden – von Mitmenschen, Gegebenheiten, dem Wetter oder auch eigener Faulheit oder Fehler.

Dritte Grundannahme. In einer wuseligen Welt wie der unseren gibt es immer wieder Widersprüche und Zufälle. Manche Dinge können wir hier und jetzt und vielleicht nie zufriedenstellend erklären. Dennoch sind wir im Stande, auch rätselhafte Dinge hinreichend einzuordnen und das Geschehen im Wesentlichen zu verstehen.

Verständnis zu erlangen, das ist überhaupt der Zweck dieses Beitrags. Ich wollte mich etwas näher mit der Coronakrise beschäftigen, eine gewisse Orientierung gewinnen und diesen Prozess dokumentieren und festhalten, um nicht in ein paar Monaten oder in zehn Jahren wieder alles vergessen zu haben. Denn diese Krise bleibt noch eine Weile und die nächste kommt bestimmt. Doch es gibt, mit etwas Glück, auch guten Grund zur Hoffnung.

31. Dezember 2020, David J. Lensing

Coronakrise 2020 · Rückblick

Am 31. Dezember 2019 wird die Weltgesundheitsorganisation (engl.: World Health Organisation, kurz: WHO) nach eigenen Angaben »über Fälle von Lungenentzündung mit unbekannter Ursache in der chinesischen Stadt Wuhan informiert.« Die WHO ist eine von vielen Sonderorganisationen der Vereinten Nationen. Sie koordiniert das internationale, öffentliche Gesundheitswesen. Für die WHO gilt, wie für die UNO: Kritik und Reformen sind wichtig und nötig. Doch ebenso ist es eine zentrale Koordination globaler Gesundheitsangelegenheiten, wie die Coronakrise einmal mehr zeigen wird.

Tipp: Mehr zur WHO, ihren Erfolgen und Problemen, siehe den Beitrag von Last Week Tonight (englischsprachig).

Ebenfalls am letzten Tag des Jahres 2019 macht in Wuhan bereits ein Artikel über eine neuartige Form von Lungenentzündung die Runde und erreicht unter anderem die chinesische Schriftstellerin Fang Fang.

Mein […] Bruder meinte, wir sollten uns nicht verrückt machen. Die Regierung würde derartige Informationen nicht zurückhalten, das könne sie vor der Bevölkerung nicht verantworten. […] Auch ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie in einer wirklich kritischen Situation Informationen unterdrücken und dem Volk die Wahrheit verheimlichen würde.

Fang Fang: Wuhan Diary, 41ff.

Fang Fang mahnt ihren Bruder zum Tragen einer Maske. 😷 Sie fühlt sich vorerst sicher, in ihrem relativ weit vom mutmaßlichen »Epizentrum« (Startpunkt) der neuen Krankheit entfernten Vorort. Im deutlich weiter entfernten Deutschland bekomme ich nichts davon mit – obwohl Deutsche Welle bereits berichtet, dass in Wuhan ein SARS-ähnliches Virus untersucht werde. Statt diese Meldung zu lesen, begebe ich mich auf eine Silvesterfeier, wie sie heute verboten wäre. Punkt Mitternacht heißt es dann: Frohes neues Jahr! 🎇 Was seither geschah.

Die erste Welle der Coronakrise

Januar 2020

Wie die meisten Menschen sah ich die Krise nicht kommen. Am 1. Januar poste ich zwar ein Video mit dem prophetischen Titel Ein Jahr, das dein Leben verändern kann (zum Blogbeitrag). Doch darin geht’s um Lebensbalance, die Ausgewogenheit zwischen Körper und Geist, Familie und Beruf, blah, blah. Am selben Tag liest Fang Fang in den Wuhan Evening News von der Schließung des Südchinesischen Marktes für Meeresprodukte (vgl. Fang Fang: Wuhan Diary, 43), auch bekannt als Feinkost-Nassmarkt in Wuhan, jenem »Epizentrum«. Es wird später auch ein anderer Ausbruchsort des Virus vermutet. Darauf komme ich zurück.

Der Begriff »Epizentrum« bezeichnet eigentlich den Startpunkt eines Bebens an der Erdoberfläche. Die Metapher passt, was die Erschütterung anbelangt, die ja bald weltweit zu spüren sein würde. Im Dialogbüchlein Trotzdem (April 2020) erinnern sich Alexander Kluge und Ferdinand von Schirach ans Erdbeben in Lissabon von 1755: »Die Kette großer Erdbeben, zu denen das spektakuläre von 1755 gehörte, waren – im Unterschied zur Pandemie, die wir erleben – räumlich umgrenzte Ereignisse.« Doch schon mit jenem Beben habe »ein neues Zeitalter« begonnen.

Die chinesische Nachrichtenagentur Xinhua teilte derweil mit, dass es sich bei den Meldungen über eine Lungenkrankheit in Wuhan um Falschinfos handele (Quelle). Acht Personen seien wegen Verbreitung der Gerüchte von der Polizei vorgeladen worden, heißt es in dem Bericht vom 1. Januar. Der letzte Satz begründet die Schließung des Marktes mit »Renovierungsarbeiten«.

Februar und März 2020

Am 1. Februar werde ich Vater, was mein Leben direkt mal mit Schwung aus der Balance bringt. 👶🏼 Corona ist da noch kein Thema für uns. Doch es kommt näher.

Während wir in Deutschland ein neues Menschenkind begrüßen, stirbt am anderen Ende der Welt – in Manila – ein 44 Jahre alter Mann, nachdem er sich mit dem neuartigen Virus infiziert hat. Inzwischen und vorläufig wird es »2019-nCoV« genannt, und jener Mann von der WHO zum ersten Todesopfer jenseits von China erklärt. Knapp eine Woche später »überspringt die Todesrate durch COVID-19 bereits die Zahl der Opfer durch SARS in den Jahren 2002 und 2003, die mit 774 angegeben wird.« (Cordt Schnibben, David Schraven (Hg.): Corona. Geschichte eines angekündigten Sterbens, 90.)

Am 1. März werden bereits erste Fälle der inzwischen so genannten Krankheit COVID-19 aus Armenien im Kaukasus, Schottland in Europa, dem US-Bundesstaat Florida und der Dominikanischen Republik zwischen Atlantik und Karibik gemeldet. (Am 11. Februar verkündete die WHO den Namen der neuen Krankheit. Hier geht zur Timeline.)

Zehn Tage später spricht die WHO im Zusammenhang mit der Erkrankung COVID-19 offiziell von einer Pandemie. (Transkript zum Statement von Tedros Adhanom Ghebreyesus, dem Generaldirektor der WHO.) Damit ist gemäß Bundesärztekammer eine sich rasant ausbreitende, »ganze Landstriche, Länder und Kontinente erfassende Krankheit« gemeint, »im Gegensatz zur Epidemie nicht regional begrenzt«.

Begriffsbestimmung von »Pandemie«

Eine Bestimmung des Begriffs »Pandemie« seitens der WHO lautet, in einem Satz: »Eine Pandemie ist die weltweite Ausbreitung einer neuen Krankheit.« Dieser Satz ist nicht als »Definition« deklariert, sondern eine schlichte Antwort auf die Frage, was eine Pandemie sei. Statt einer offiziellen Definition stellt die WHO eine Beschreibung von Pandemien und ihren Phasen bereit.

Hin und wieder ist davon zu lesen, dass die WHO ihre »Definition« von »Pandemie« vor ein paar Jahren angepasst habe. Und davon, dass die Coronakrise nach ehemaligen Maßstäben gar nicht (mehr) als »Pandemie« gelten würde. (Die Frage, ob die WHO die Pandemiephasen-Definition geändert habe, um überhaupt eine Pandemie ausrufen zu können, kam bereits im Zuge der H1N1-»Pandemie« 2009 auf. Eine Antwort dazu.)

Der erste Teil stimmt gewissermaßen. Die WHO hat in ihrer langjährigen Geschichte nicht die Definition (weil sie keine solche bietet) wohl aber die Beschreibung einer Pandemie und ihrer Phasen einige Male überarbeitet. Der zweite Teil stimmt nicht, wie ein kurzer Blick in die Pandemie-Pläne der WHO zeigt. Egal ob 1999, 2005, 2009 oder 2017 – die COVID-19-Pandemie wäre zu jeder Zeit seit ihrer Ausrufung am 11. März nach jeglicher WHO-Beschreibung einer »Pandemie« noch bis heute als eine solche zu bezeichnen.

Zur Pandemie 2009/2010

Umstrittener war das bei der Pandemie des Influenza-A-Virus H1N1 (aka Schweinegrippevirus) in den Jahren 2009 und 2010, die weit glimpflicher verlief, als befürchtet. Hier ein Rückblick zur damaligen Kontroverse.

Einerseits ließe sich sagen: better safe than sorry, sicher ist sicher. Andererseits hat die Ausrufung einer Pandemie gewaltige finanzielle und politische Konsequenzen, was die Investition in Impfstoffe und Vorsichtsmaßnahmen, aber auch Angst innerhalb der Bevölkerung angeht. Daher sind ein klares Verständnis dessen, was als »Pandemie« zu gelten hat, sowie eine ebenso klare Kommunikation desselben wichtig. Auf diesen Punkt wies auch die Doku Profiteure der Angst – Das Geschäft mit der Schweinegrippe (2009) hin und beleuchtete kritisch die Nähe von Pharma-Industrie und der WHO.

Wie gesagt: Kritik ist angebracht, bestenfalls konkret und sachlich. Besagte Doku hingegen reiht sich selbst in die Profiteure der Angst ein, indem sie Furcht nicht vor Viren, aber vor Impfstoffen und Intrigen schürt. Jedenfalls ist schon im ersten Quartal von 2020 klar, dass die aktuelle Pandemie folgenreicher wird als die damalige. Und so nimmt die Coronakrise ihren Lauf.

April 2020

Am 1. April erscheinen Berichte, laut denen China erstmals zahlreiche Fälle ohne Symptome gemeldet habe, Italien den Lockdown verlängere, in den USA der Chef-Virologe Morddrohungen und fortan Personenschutz erhalte, in Israel der Gesundheitsminister positiv getestet worden sei und in London ein ehemaliger Premierminister Somalias an dem Virus gestorben sein soll. Im Jemen indes wurden, so heißt es, am 1. April über 400 Gefangene freigelassen, weil die Ausbruchsgefahr in den Gefängnissen so groß gewesen sei – kein Aprilscherz, sondern bitterer Ernst. Alles berichtet oder geschehen an einem Tag. Seither geht’s so weiter, Schlag auf Schlag. Im April flaut die erste Welle in Deutschland ab, da geht die Coronakrise in Brasilien 🇧🇷 und Russland 🇷🇺 erst los. Ende des Monats tickert n-tv:

+++ 07:08 Brasilien: Zahl der Toten steigt massiv +++ […]

+++ 11:20 Neuer Höchststand bei Neuinfektionen in Russland +++

Zu viele News

Nun glaube ich nicht unhinterfragt alles, was im Internet, TV, Radio oder in Zeitungen vermittelt wird. Doch die schiere Menge an Meldungen rund um die Coronakrise – in sämtlichen Medien – hat mehr als hellhörig gemacht. Schon im März sickerte die Gewissheit ein, dass etwas Großes im Gange ist. Etwas, das unsere Gesellschaft tiefgreifend beeinflusst. Aber was? Auf diese Frage gibt es im täglichen Nachrichtenstrom zu viele Antworten.

Allerdings sind zahlreiche der Berichte zu besagten Ereignissen nur ein paar Zeilen auf Websites, die keine oder anonyme Quellen anführen. Teils wird nicht einmal namentlich angeben, wer die Zeilen verfasst hat. Dazu kommen schnelle Schlüsse wie jener, dass der besagte ehemalige Premier Somalias an dem Virus gestorben sei (»has died of coronavirus«). Der Mann ist über 80 Jahre alt geworden, der Bericht 12 Stunden nach seinem Tod erschienen. Wie ist unter diesen Umständen und in dieser Zeitspanne denn bitte sichergestellt worden, dass der ehemalige Premier an dem Virus und nicht zufällig mit dem Virus verstorben ist? Für wie viele der Todesfälle mag es noch gelten, dass sie vielleicht gar nicht mit dem Virus zusammenhängen?

Offene Fragen zur Coronakrise

Es gibt viele solcher skeptischen Fragen zur Coronakrise, die seit Monaten gestellt werden. »Wie ›gefährlich‹ ist das neue ›Killervirus‹?« (Sucharit Bhakdi, Karina Reiss: Corona Fehlalarm?, 17.) Sind Maßnahmen wie Lockdowns gerechtfertigt? Welche Langzeit-Auswirkungen sind zu befürchten? Wenn die Lage so chaotisch ist und niemand sicher Bescheid weiß, welchen Quellen können wir trauen?

Tatsache ist, dass es gute Quellen und Antworten gibt. Doch auf der Suche danach kommen wir um eines nicht herum: Medien. Deshalb ist es wichtig, den richtigen Umgang damit zu finden. Denn »die Medien«, das sind mehr als nur Nachrichtenkanäle, die uns rund um die Uhr mit Livetickern bei Laune halten oder vom Leben ablenken. Die Fähigkeit, Medien und ihre Inhalte (neudeutsch: Content) geschickt und zielführend zu nutzen, ohne sich hinters Licht führen zu lassen, wird Medienkompetenz genannt.

Hinweis: Im kleinen Einmaleins der Medienkompetenz 📺 gibt’s Antworten darauf, was Medien sind und wie es um ihre Unabhängigkeit steht. In Zeiten der Coronakrise spielen Medien mehr denn je eine zentrale, meinungsbildende Rolle.

Begriffe und Basics

Wie mache ich mir ein Geschehen wie die COVID-19-Pandemie begreiflich? Fangen wir mit dem Begriff an. Was eine Pandemie ist, haben wir bereits geklärt (S. 6). Wenn ich »COVID-19« im Wörterbuch nachschlage, wird es dort als eine Abkürzung erklärt, für die Bezeichnung: coronavirus disease 2019, zu deutsch: Coronavirus-Krankheit 2019. Es handelt sich, so steht es da, um eine »vom ab Ende 2019 aufgetretenen Coronavirus SARS-CoV-2 ausgelöste Krankheit«. Diese Info gibt mir zwei neue Anhaltspunkte: der Auslöser der Krankheit und dessen erstes Auftreten. Wenn ich »SARS-CoV-2« im Wörterbuch eingebe, steht da: »ein Coronavirus, das die Erkrankung COVID-19 auslöst«. Weiß ich doch schon. Immerhin: »ein Coronavirus« heißt, dass es mehrere, verschiedene Coronaviren gibt. Ansonsten bringt mich ein Wörterbuch nicht mehr weiter.

Gebe ich »SARS-CoV-2« bei Google ein, sehe ich auf den ersten Blick, dass gerade was Krasses abgeht. Mir werden in Zeiten der Coronakrise nicht, wie sonst, nur Suchergebnisse angezeigt, sondern eine Übersichtsseite mit Schlagzeilen und Fallzahlen, Lokalnachrichten, Gesundheitsinfos und Hinweise zum Umgang mit der Situation. »Psychische Probleme kommen häufig vor«, heißt es da, »Hier einige Tipps, wie Sie Stress reduzieren und Ihr Wohlbefinden steigern können.« Zwischen diesen Infokästen finden sich die Suchergebnisse. Die obersten führen zum Robert-Koch-Institut (kurz: RKI) und Wikipedia. Das RKI kannte ich bis vor kurzem nicht und lasse es erstmal beiseite. Für grundlegende Fragen zu Beginn einer Recherche über die Coronakrise erscheint mir Wikipedia als passender Startpunkt.

Was ist SARS-CoV-2?

»SARS-CoV-2«, heißt es da, sei eine Abkürzung für die Bezeichnung: severe acute respiratory syndrome coronavirus 2, zu deutsch: schweres akutes respiratorisches Syndrom-Coronavirus-2. »Akut« meint auf eine Krankheit bezogen so viel wie: »unvermutet auftretend, rasch und heftig verlaufend.« Das Wort »respiratorisch« leitet sich von der »Respiration« ab – das ist ein schlaues Wort für »Atmung«. SARS-CoV-2 ist also ein Coronavirus, das eine schwere, plötzlich auftretende, heftig verlaufende Atemwegserkrankung verursachen kann. Was die »2« bedeutet, steht da erstmal nicht, wohl aber, dass dieses Virus »zur Familie der Coronaviren« gehört.

Folge ich dem Link, lande ich beim Artikel über Coronaviridae, einer »Virusfamilie innerhalb der Ordnung Nidovirales.« Folge ich diesem Link, lese ich, dass Nidovirales eine »Ordnung« ist, die »vier Familien von Viren mit einem nicht-segmentierten, einzelsträngigen RNA-Genom von positiver Polarität« umfasst. Schau an, schon check’ ich gar nix mehr.

Sind Viren Lebewesen?

Spätestens jetzt muss ich mir eingestehen, wie verflixt gering mein Wissen über Viren ist. Frei nach Sokrates: Ich weiß, dass ich nichts weiß – über Viren. (Der Satz »Ich weiß, dass ich nichts weiß« ist nicht direkt von Sokrates überliefert, sondern wurde ihm sinngemäß etwa von Cicero zugeschrieben, vgl. Cic. Ac. 1.16.)

Immerhin sind mir die Begriffe »Ordnung« und »Familien« als biologische Kategorien bekannt. In meiner Jugend war ich ziemlich fasziniert von Fischen und lernte gerne deren »Stammbäume« auswendig. Denn jede Fischart gehört einer Gattung an, die einer Familie angehört, die unter eine Ordnung fällt, und so weiter. Nicht nur Fische, sondern alle Lebewesen lassen sich so einordnen.

Sind Viren also Lebewesen, aus Zellen bestehende Organismen, wie du und ich und Fische es sind? Schlage ich ein Lehrbuch über Virenkunde auf, lautet der erste Satz zur Frage Was sind Viren? fett und deutlich: »Viren sind keine Lebewesen.« (Kurt Tobler, Mathias Ackermann, Cornel Fraefel: Allgemeine Virologie, 12.) Klare Ansage. Was folgt ist eine detaillierte Beschreibung von Viren, die eine Wissenschaft für sich sind – und in vieler Hinsicht umstritten. Auch dahingehend, ob sie wirklich nicht als Lebewesen gelten können.

Kleine Virenkunde zur Coronakrise

Auf Wikipedia heißt es: »Die Wissenschaft, die sich mit Viren und Virusinfektionen beschäftigt, wird als Virologie bezeichnet.« Dieses Stichwort hat mich zu dem eben zitierten Lehrbuch geführt. Darin werden Viren als Parasiten beschrieben.

Der Begriff »Parasit«, umgangssprachlich auch »Schmarotzer«, stammt vom lateinischen Wort parasītus ab, das wertfrei soviel wie »Tischgenosse« heißt. (Vgl. Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 611.) Ein Gast, den ich bewirte.

Aufdringlich wird so ein Gast, wenn er meinen Körper als Tisch betrachtet und sich von mir als Wirt ernährt. Richtig unangenehm wird’s, wenn mein Körper darunter leidet. Parasiten können selbst Organismen sein, wie Läuse und Zecken, oder Viren, die so winzig sind, dass sie in die Zellen von Organismen eindringen – selbst in solche von Läusen und Zecken – und dort ihr Unwesen stiften.

[Viren besitzen] die Fähigkeit, Zellen so zu manipulieren, dass diese ihre Ressourcen für die Virusvermehrung zur Verfügung stellen, manchmal zum Schaden des Wirts. Dieser hat zwar effiziente Abwehrmechanismen entwickelt, die Virusevolution verläuft aber meist schneller als jene des Wirts, und so können Viren diese Abwehrmechanismen oft gezielt beeinflussen.

Kurt Tobler, Mathias Ackermann, Cornel Fraefel: Allgemeine Virologie, 12

Zur Entstehung von Viren und Epidemien

Wie sind Viren erstmals entstanden? 🦠 Dazu kursiert eine Reihe von Theorien, aber keine finale Antwort. Das Auftreten der ersten Epidemien, also größerer Ausbrüche von Krankheiten, wie sie von Viren verursacht werden, lässt sich schon eher eingrenzen.

Vor rund 12.000 Jahren, als sich die ersten Menschen niederließen, Ackerbau betrieben und Haustiere hielten, nahm der Kontakt zwischen Mensch und Tier zu – und als vor rund 5.000 Jahren die ersten Städte entstanden, auch der Kontakt zwischen den Menschen untereinander. Damit waren für Viren ideale Bedingungen zur Ausbreitung geschaffen. (Vgl. Laura Spinney: 1918. Die Welt im Fieber, 30.) Diese Bedingungen verbessern sich seither, je dichter und zahlreicher wir beisammen leben.

Zur Entdeckung der Coronaviren

Die Anzahl verschiedener Viren ist schwindelerregend – es gibt mehr Viren auf Erden als Sterne im Universum (siehe: National Geographic: There are more viruses than stars in the universe. Why do only some infect us?, 15.04.20, mit Bezug auf: Nature Reviews Microbiology: Microbiology by numbers, 12.08.11) – zumal Viren sich ständig verändern und mutieren, wodurch neue entstehen können, wie die sich seit Dezember 2020 ausbreitende Coronavirus-Variante B.1.1.7 zeigt.

Die Größe von Viren variiert von mikrometergroßen Pandora-Viren bis hin zu noch 50 Mal winzigeren Vertretern wie den Parvo-Viren, die nur 20 Nanometer messen. (1 Nanometer, nm, ist ein milliardstel Meter, m, mathematisch ausgedrückt 1 nm = 10-9 m.) Lange ließen sich Strukturen von weniger als 200 Nanometern nicht mit Lichtmikroskopen beobachten, wohl aber via Elektronenmikroskopie. (Siehe: Christoph Cremer: Lichtmikroskopie unterhalb des Abbe-Limits. Lokalisationsmikroskopie, 21. In: Phys. Unserer Zeit 1/2011 (42), 21-29)

Das Geschick der June Almeida

Großes Geschick im Umgang mit dieser Technik verhalf der Virologin June Almeida bei der Untersuchung von Zellproben in den 1960ern zu einer Entdeckung. Ein Kollege von ihr schrieb dazu:

Obwohl wir uns nur auf die elektronenmikroskopischen Aufnahmen stützen konnten, waren wir recht sicher, dass wir eine bisher unbekannte Gruppe von Viren identifiziert hatten. Wie sollten wir sie nennen? […] Wir sahen uns das Aussehen der neuen Viren genauer an und stellten fest, dass sie von einer Art Heiligenschein (halo) umgeben waren. Der Rückgriff auf ein Wörterbuch ergab die lateinische Entsprechung, corona, und so wurde der Name »Coronavirus« geboren.

David A. Tyrrell, Michael Fielder: Cold Wars: The Fight Against the Common Cold, 96 (Übersetzung DJL), vgl. auch National Geographic: She discovered coronaviruses decades ago – but got little recognition, 17.04.20. Zur Namensgebung der Coronaviren siehe auch: Coronaviruses, in: Nature 220, 16.11.68, 650.

Je nach Wörterbuch wird corona auch übersetzt als »Kranz« oder – wie es heute gebräuchlich ist – mit »Krone«. (Vgl. u. a. Stowasser, Josef M. et al.: Stowasser. Lateinisch-deutsches Schulwörterbuch.) Die Namensgebung mag wie eine Nebensache wirken, doch im Falle von Viren ist sie ein hochpolitisches Thema.

Zur Benennung von Viren

Wenn wir uns einer neuen Bedrohung gegenübersehen, ist es für uns Menschen immer am allerwichtigsten, sie zu benennen. Hat man sie erst einmal benannt, kann man darüber sprechen. […] Das Problem […] ist, dass beim Ausbruch einer Epidemie meist noch der Überblick fehlt. Es kann sein, dass das Wesen der Krankheit oder ihr Ursprung falsch eingeschätzt werden.

Laura Spinney: 1918. Die Welt im Fieber, 75

Diese Zeilen stammen aus dem Buch 1918. Die Welt im Fieber. Darin schreibt die Autorin Laura Spinney über die Spanische Grippe, eine Influenza-Pandemie, die zwischen 1918 und 1920 zig Millionen Menschen auf allen Kontinenten (außer der Antarktis) das Leben kostete.

Obwohl weder die Krankheit noch das verursachende Virus ihren Ursprung in Spanien hatten (zum Ursprung der Spanischen Grippe gibt es 3 Theorien, siehe Spinney, Kap. 11), blieb der Begriff der »Spanischen Grippe« bis heute haften. Ebenso hält sich der Impuls, Krankheiten mit Nationen in Verbindung zu bringen.

Das »China-Virus«

So bezeichnete der bald (endlich) ehemalige Präsident Donald Trump das neuartige Virus zu Beginn der Coronakrise im März als »Chinese Virus« und zeigte sich – erwartungsgemäß – seither unfähig oder unwillig, die rassistische oder zumindest verunglimpfende Wirkung dieser Bezeichnung zu bemerken.

Tipp: Zur politischen Bedeutung der Virus-Benennung, siehe auch: Taiwan News: WHO declines to name new pneumonia after ›China‹ or ›Wuhan‹, 14.01.20.

Monate später legte Trump nochmal nach und sprach:

Es hat noch nie etwas gegeben, wo sie so viele Namen für haben. Ich könnte dafür neunzehn oder zwanzig Namen nennen, nicht wahr? Es hat ganz verschiedene Namen. Wuhan. Wuhan hatte sich durchgesetzt. Coronavirus, richtig? Kung Flu, yeah. […] Ich könnte Ihnen viele, viele Namen geben. Manche nennen es die China-Grippe.

Donald J. Trump auf einer Rally in Arizona (Video, Übersetzung DJL)

Wie ernst solche Bemerkungen gemeint sind, davon hängt ab, wo sie auf der Skala zwischen böswillig und unsinnig einzuordnen wären. Hanlons Rasiermesser besagt: Schreibe nicht der Böswilligkeit zu, was durch Dummheit hinreichend erklärbar wäre. Jedenfalls ist die Sache nicht so kompliziert, wie Trump es dargestellt hat, fünf Monate nach der Benennung des Virus als SARS-CoV-2 durch die zuständige Stelle. In diesem Fall war das die Coronavirus Study Group des Internationalen Komitees für die Taxonomie von Viren. Zu dieser Study Group gehören u. a. zwei Mitglieder aus Deutschland, und zwar John Ziebuhr – als Vorsitzender – und Christian Drosten. In dem Bericht der Gruppe gibt’s auch eine Antwort auf die Frage, was die »2« bedeutet, denn:

Zur Pandemie 2002/2003

Die Study Group beschreibt das neue Virus, das uns die Coronakrise beschert, als verwandt mit jenem SARS-Virus, das uns 2002/2003 die erste Pandemie des 21. Jahrhunderts bescherte. Bei beiden SARS-Viren handelt es sich um Coronaviren, daher die Abkürzungen SARS-CoV – oder nunmehr SARS-CoV-1 – und SARS-CoV-2, das jetzt jüngste und siebte »Mitglied im Familienverband der Coronaviren, die den Menschen krank machen können.« (Cordt Schnibben, David Schraven (Hg.): Corona. Geschichte eines angekündigten Sterbens, 38.) SARS steht, wie gesagt, für schwere, akute Atemwegserkrankung.

Sie infizieren auch […] Tiere, darunter Vögel und Säugetiere. Aber nur SARS-CoV, MERS-CoV und das neuartige Virus lösen für den Menschen mitunter lebensgefährliche Erkrankungen aus.

Cordt Schnibben, David Schraven (Hg.): Corona. Geschichte eines angekündigten Sterbens, 39

Coronaviren gehören mit rund 120 Nanometern zu den kleineren Vertretern von Viren. (Kaniyala Melanthota et al.: Elucidating the microscopic and computational techniques to study the structure and pathology of SARS-CoVs. In: Microsc Res Tech, 07.08.20.)

Da drängt sich die Frage auf: Wie kann etwas derart Kleines so gefährlich werden?

Die SARS-Pandemie 2002/2003 kostete in neun Monaten laut WHO weltweit über 700 Menschenleben. Todesrisiko SARS, hieß es damals. In der derzeitigen Coronakrise waren so viele Infizierte – wie erwähnt – bereits Anfang Februar gestorben. Seither sterben so viele Menschen im Zusammenhang mit COVID-19 weltweit binnen weniger Stunden. Allein in Deutschland verzeichnen wir an manchen Tagen weit mehr Corona-Verstorbene als während der gesamten SARS-Pandemie 2002/2003. Am Mittwoch, 30. Dezember 2020, waren es laut RKI über 1.100 Menschen. Das entspricht in etwa der Bevölkerung in meiner Heimatgemeinde.

Direkte und indirekte Schäden im Körper

Kaum auszumalen, was hierzulande los wäre, wenn so viele Leben von heute auf morgen durch eine besser sichtbare Katastrophe ausgelöscht würden. Doch Corona ist, wie Krebs, ein unsichtbares Übel. Krebs plagt uns schon lange als eine mögliche Todesursache, eine der häufigsten sogar. Doch das Virus, das die Coronakrise verursacht, ist neu und stimmt viele Menschen skeptisch, was seine potenziell tödliche Wirkung betrifft: Sterben die Leute sicher an, oder nicht doch eher mit Corona? Eine naheliegende Frage, die allerdings rasch ignorant oder zynisch wirken kann.

In meinem Bekanntenkreis ist vor kurzem ein Ehepaar innerhalb eines Monats gestorben, der Mann durch einen Herzinfarkt, die Frau durch Lungenversagen. Beide waren 76 Jahre alt und mit dem Coronavirus infiziert. Beim Lungenversagen scheint der Zusammenhang klar, beim Herzinfarkt weniger. Trotzdem hat die Tochter des Paares guten Grund zur Annahme, dass ihre Eltern ohne das neuartige Virus noch am Leben wären. Denn SARS-CoV-2 gelangt zwar über Mund und Nase in den Körper und entzündet im Rachen zunächst und bei vielen nur die oberen Atemwege, doch von dort aus kann es oft nicht nur auf die Lunge übergreifen, sondern sich auch auf den Blutkreislauf auswirken und so indirekt Schlaganfälle und Infarkte verursachen. Eine Übersicht über die direkten und indirekten Schäden, die Corona im Körper anrichten kann, hat das ZDF mit fachkundiger Unterstützung durch sechs habilitierte Doktoren der Medizin erstellt.

Fakt 🤓 vs. Fake 🥸

Doch Doktortitel haben viele. Selbst mein Bio-Lehrer hatte einen. Ich erinnere mich an eine Stunde, in denen er uns eine Reihe von Zeichnungen gezeigt hat, wie wir sie aus dem Bio-Buch kannten. Jedoch von Lebewesen, die ich nie zuvor gesehen hatte. Es waren eher kleine, haarige Tierarten mit einem hervorstechenden, gemeinsamen Merkmal: Sie hatten verrückt große Ohren. Unsere Aufgabe bestand darin, zu erklären, durch welche Faktoren die Evolution solche Ohren hervorgebracht habe. Langer Rede kurzer Sinn: Am Ende löste der Herr Dr. Lehrer auf, dass es diese Tiere gar nicht gab. Alle Bilder waren Fake und die Stunde ein ambitionierter Scherz – der uns lehrte, nicht alles zu glauben, auch wenn es überzeugend und von einem Doktor vorgetragen wird.

Literaturrecherche

Derselbe Lehrer, ehrlich gesagt der beste, den ich je hatte, brachte mir später bei, dass Wikipedia keine verlässliche Quelle für eine Facharbeit sei. (Ich schrieb meine Facharbeit damals über Fische.) Eine Facharbeit dient in der Oberstufe dazu, wissenschaftliche Methoden zu lernen und anzuwenden. Dazu gehört die Auseinandersetzung mit Fachliteratur. Während Wikipedia ein guter Ausgangspunkt sein kann, führt für die weitere Recherche kein Weg an Fachbüchern und -zeitschriften vorbei, wenn ein Thema tiefgreifend erarbeitet werden soll.

Auch in diesem Beitrag bin ich von Wikipedia übergegangen zu Sach- und Fachlektüre, die ich mal mithilfe von Literatur- und Quellenangaben – via Schneeballsystem – und mal durch gezielte Online-Recherche – etwa via Google Scholar – gefunden habe. (Auf YouTube gibt’s einen Video-Schnellkurs zum Thema Literaturrecherche. 📚) Wenn von akademischen Titeln und Fachliteratur die Rede ist, dann geht es uns vor allem um eines: um vertrauenswürdige Medien und sicheres Wissen. Wieder wollen wir nicht vorgreifen, sondern erstmal klären, was unter dem Begriff »Wissen« überhaupt zu verstehen ist und wie sich verschiedene Auffassungen unterscheiden lassen. Diejenige Disziplin, die sich mit dem Wissen beschäftigt, ist die Erkenntnistheorie.

Hinweis: Im kleinen Einmaleins zur Erkenntnistheorie gibt’s Antworten darauf, was Wissen ist und auf welches (bzw. wessen) Wissen wir uns stützen können, insbesondere in Zeiten der Krise.

Expertise in der Krise

Wenn es um zuverlässiges Wissen geht, sind Experten und Expertinnen gefragt. Doch welche? Wichtig ist die Reihenfolge. Erst Klarheit über die Fragestellung gewinnen, dann Fachleute konsultieren. Wir leben nicht mehr in der Zeit von Universalgelehrten wie Cavendish oder Leibniz, von denen es heißt, dass sie weite Teile des Wissens ihrer Zeit im Blick hatten. Über Viren weiß heute manch Kind mehr als diese zwei Gelehrten des 17. Jahrhunderts, weil Viren (als biologische Einheit) eine Entdeckung des 19. Jahrhunderts sind.

Merke: Vor der Entdeckung von Viren als biologische Einheit wurde der Begriff »Virus« (von lat. vīrus – Gift, Saft, vgl. Kluge 2011) noch synonym mit »Gift« oder »Miasma« verwendet, vgl. u. a. Pierer’s Universal-Lexikon, Bd. 18. Altenburg 1864, S. 615.

Und bis ins 21. Jahrhundert ist unser Wissen so explodiert, dass allein die Erforschung von nur einer Familie von Viren ein Gelehrtenleben beanspruchen kann. Wer sich für ein solches entscheidet, wäre für andere Wissensbereiche keine brauchbare Auskunftsquelle mehr. Wenn ich was über Fortnite-Skins wissen will, dient als »guter Informant« statt eines Gelehrten wohl eher ein 15-jähriger Zocker.

Und was auch immer heute als Allgemeinwissen gelten mag – das Thema Coronakrise fällt nicht in diesen Bereich. Das Thema Coronakrise fällt in gar keinen einzelnen Wissensbereich. Es betrifft so viele Einzelwissenschaften und Fachbereiche, dass es die eine brauchbare Auskunftsquelle nicht gibt.

Coronakrise: ein Thema, viele Fachbereiche

Stattdessen umfasst das Thema Coronakrise – die Pandemie mit all ihren direkten, indirekten, gesundheitlichen, gesellschaftlichen, physischen, psychischen, bildungspolitischen, ethischen und wirtschaftlichen Auswirkungen – diverse Aspekte, von denen nur manche in die Fächer Epidemiologie und Virologie fallen, andere in die Psychologie, Soziologie, Ökonomie oder in die Physik (deren Bedeutung im Kampf gegen das Virus die Physikerin Viola Priesemann immer wieder betont und damit zunehmend Gehör findet). Ja, selbst die Neandertaler-Forschung ist betroffen. Inzwischen gibt es Studien, die schwere Verläufe von COVID-19 mit dem Erbgut der Steinzeitmenschen in Verbindung bringen. (Vgl. Hugo Zeberg, Svante Pääbo: The major risk factor for severe COVID-19 is inherited from Neanderthals, in: Nature, 30.09.20; Yang Luo: Neanderthal DANN highlights complexity of COVID risk factors, in: Nature, 26.10.20.)

Oft bedarf es auch nicht theoretischer Lehre, sondern der praktischen Erfahrung ärztlichen Fachpersonals und der Pflegekräfte. Kurz: Ehe ich entscheide, wer als guter Informant bzw. gute Informantin dient (mehr dazu im Beitrag über pragmatisch aufgefasstes Wissen), muss ich mein Anliegen konkret und trennscharf formulieren.

Was in der Krise zählt

Was will ich genau wissen? Darauf folgt erst die Frage: »Auf welche Experten sollten wir uns stützen?« (Nikil Mukerji, Adriano Mannino: Covid-19: Was in der Krise zählt. Über Philosophie in Echtzeit, 50.) Das ist immer noch eine epistemische, unsere Erkenntnis und damit die Philosophie betreffende Frage. Daher haben hier die Philosophen Nikil Mukerji und Adriano Mannino durchaus das Zeug zu »guten Informanten«. In ihrem Essay Covid-19: Was in der Krise zählt widmen sie der Frage ein eigenes Kapitel und bieten wichtige Denkanstöße und Lösungsansätze für eine Problematik, die darin mitschwingt: Auf welche Experten und Expertinnen können wir uns stützen, wenn diese ihre Ansichten von Zeit zu Zeit anpassen und einander innerhalb der Fachgemeinschaft widersprechen?

Voraussetzungen für Expertise

Wenn es um die Expertise, also das Fachwissen, von einzelnen Personen geht, unterstreicht eine Erkenntnis aus der Psychologie die Schwierigkeit der Lage. Denn »zwei grundlegende Voraussetzungen für den Erwerb von Expertise« sind: 1) »Eine Umgebung, die hinreichend regelmäßig ist, um vorhersagbar zu sein.« und 2) »Eine Gelegenheit, diese Regelmäßigkeiten durch langjährige Übung zu erlernen.« (Daniel Kahneman: Schnelles Denken, langsames Denken, 296.) Beide Voraussetzungen sind in der Coronakrise nicht gegeben. Egal, ob wir nun das Virus selbst, die Medien, die Angst oder die Maßnahmen für das schwerwiegendste Problem halten, in jedem Fall ist eine Krise dieser Größenordnung und Dynamik auch für Fachleute Neuland.

Der Begriff »dynamisch« fällt häufig in diesen Tagen, und man kann ihn sich übersetzen mit: »Was gestern noch galt, ist heute vielleicht schon ganz anders. Die Dinge ändern sich schnell.«

Cordt Schnibben, David Schraven (Hg.): Corona. Geschichte eines angekündigten Sterbens, 131.

In Anbetracht dessen wäre es verwunderlich, wenn Fachleute ihre Ansichten nicht von Zeit zu Zeit anpassten. Mit Kebekus gesprochen: »Nur Vollidioten legen sich auf eine Meinung fest, wenn es ständig neue Erkenntnisse gibt!« (Min 3:13)

Achtung, Denkfehler!

Weitere Aspekte, die es bei Fachmeinungen zu bedenken gibt: Auch Experten und Expertinnen können gängigen Denkfehlern aufsitzen. Etwa einer Fehlwahrnehmung von exponentiellem Wachstum. Das ist Wachstum, das in einem Zeitabschnitt nicht gleichmäßig zunimmt – das wäre lineares Wachstum, wenn etwa ein Fisch pro Jahr sieben Zentimeter wächst – sondern sich im je gleichen Zeitabschnitt vervielfacht, wenn etwa sieben Fische je siebzig Fischbabys kriegen, die im nächsten Jahr selbst je siebzig Babys kriegen; und dann gibt’s Denkfallen, für die Fachleute besonders anfällig sind. Etwa die Neigung, Fachmethoden über ihren Geltungsbereich hinaus anwenden zu wollen. Trotz aller Einwände bleibt’s dabei: die langjährige Erfahrung in einem Fachbereich gilt als Eigenschaft, die uns den Schluss erlaubt, dass die entsprechend erfahrene Person »mit hoher Wahrscheinlichkeit recht hat mit dem, was sie zu wissen meint.«

Diese Wahrscheinlichkeit steigt, wenn mehrere solch erfahrener Personen eine Meinung vertreten. Wenn sich eine Vielzahl von Experten und Expertinnen hingegen »uneins sind« empfehlen Mukerji und Mannino in ihrem Essay zur Coronakrise, »auf den Track-Record [zu achten], den ein Experte oder eine Expertin aufweist.« Soll heißen?

Wenn bekannt ist, dass er oder sie mit Urteilen und Lageeinschätzungen in der Vergangenheit häufiger richtig lag als andere Personen mit vergleichbarer Expertise, dann spricht das dafür, seinem bzw. ihrem Urteil ein höheres Gewicht zu geben.

Nikil Mukerji, Adriano Mannino: Covid-19: Was in der Krise zählt. Über Philosophie in Echtzeit, 47.

Voreingenommene Fachleute

Für Laien ist es jedoch nicht einfach, den »Track-Record« von Fachleuten zu recherchieren. Immerhin: Ganz steile Aussagen mögen uns auffallen. Wenn ein deutscher Facharzt im November noch sagt, es gebe gerade gar »keine Epidemie von nationaler Tragweite« (Sucharit Bhakdi im Interview mit der Fuldaer Zeitung, 04.11.20), widerspricht das meiner Wahrnehmung so sehr, dass ich diesem Menschen nur noch mit besonderer Vorsicht zuhöre. Ich gleiche seine Aussagen mit verfügbaren Daten ab und stufe ihn im Zweifelsfall eher nicht als »guten Informanten« ein.

Umso mehr, wenn sich zahlreiche Fachleute, die sich als Mitglieder einer Wissenschaftsgemeinschaft kritisch aneinander abarbeiten, von diesem Experten distanzieren und er zum »Abweichler« wird.

Bei den Abweichlern handelt es sich nicht selten um Personen, die offensichtlich voreingenommen sind. Doch wenn es in der Expertengemeinschaft etwa 50 zu 50 […] steht, müssen zumeist beide Seiten ernstgenommen werden.

Nikil Mukerji, Adriano Mannino: Covid-19: Was in der Krise zählt. Über Philosophie in Echtzeit, 56.

Tatsächlich haben Sucharit Bhakdi und Karina Reiss bereits 2016 die Meinung vertreten, dass Gefahren durch Viren überschätzt werden. Zum Risiko einer Pandemie schrieben sie: »Auch wenn ständig ›neue‹ Erreger entstehen, wird es ein sehr seltenes Ereignis bleiben, dass unter ihnen auch einer auftaucht, der in der Lage sein wird, weltweit großen Schaden anzurichten«, gefolgt vom Gedanken, dass »die Medien, die WHO und die Pharmafirmen […] weiterhin in hoffnungsvoller Erwartung der nächsten Pandemie entgegenfiebern.« Eine solche Haltung qualifiziere ich als Voreingenommenheit in Bezug auf Pandemie-Risiken, vgl. Sucharit Bhakdi, Karina Reiss: Schreckgespenst Infektionen. Mythen, Wahn und Wirklichkeit, 137.

Patt-Situation in Sachen Corona?

Es bedarf keiner langen Recherche, um eine Sammlung von 250 Expertenstimmen aus aller Welt zu finden. Ein Potpourri kritischer Bemerkungen zur Einschätzung von oder dem Umgang mit der Coronakrise. Ebenso ist es nicht schwer, über 200 Experten und Expertinnen zu finden, die davor warnen, das Virus nicht zu unterschätzen und besondere Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Herrscht in der Wissenschaft also eine Patt-Situation in Sachen Corona?

Nein. Insgesamt 239 Fachleute waren es, die allein einen offenen Brief an die WHO unterstützt haben. Darüber, dass das Virus durch die Luft übertragbar sei. Jene Sammlung von »250 Expertenstimmen« hingegen listet viele der Fachleute namentlich doppelt und mehrfach auf. Und sie reißt Zitate aus dem Zusammenhang (z. B. das Zitat von Anthony Fauci: »Dies deutet darauf hin…«, S. 36. Es ist ungenau aus dem Englischen übersetzt und aus dem Kontext gerissen. Das Originalzitat ist in der Liste verlinkt, was die Überprüfung vereinfacht, S. 1268, rechte Spalte: »This suggest that…«).

Falsche Ausgewogenheit / False Balance

Dass überhaupt der Eindruck entstehen kann, es herrsche ein Gleichgewicht unterschiedlicher wissenschaftlicher Grundansichten zur Coronakrise liegt an einer medialen Verzerrung. Dieses Phänomen wird »Falsche Ausgewogenheit« (false balance) genannt. Es tritt dann auf, wenn einer wissenschaftlichen Stimme, die dazu mahnt, das Virus ernst zu nehmen und Maßnahmen zu ergreifen, unbedingt eine wissenschaftliche Stimme gegenübergestellt werden soll, die eine gegenteilige Meinung vertritt. Einfach, um »beide Seiten zu hören«, wie es so schön heißt. Von gutem Journalismus sind wir das gewohnt. 📰 Im Beitrag über Medien nenne ich die »Ausgewogenheit« ja auch als einen Maßstab zur Beurteilung vertrauenswürdiger Medien.

Doch auf Wissenschaftsjournalismus ist diese Praxis nicht Eins zu Eins übertragbar, da es nicht einfach nur »zwei Seiten« gibt, wie es manche Interviews suggerieren möchten (z. B. die Gegenüberstellung Mansmann vs. Bhakdi: Corona schon vorbei? von Deutsche Welle).

Das wissenschaftliche Meinungsspektrum

Der journalistische Anspruch, diese und jene wissenschaftliche Meinung darzustellen, ist aus demselben Grund wenig hilfreich, aus dem ich mir meine Fachfrage nicht erst selbst beantworten sollte, aufgrund persönlicher Erfahrung oder Intuition hin, um mir danach ein paar Fachmeinungen zu suchen, die mit meiner übereinstimmen. Das bringt mich und meinen Wissensstand ja kein Stück weiter, auch wenn es leicht wäre, eben weil es in der Wissenschaft so viele, teils leichte, teils gravierende Meinungsverschiedenheiten gibt. Darin liegt wohlgemerkt keine Schwäche der Forschungsgemeinschaft, im Gegenteil.

Vielmehr liefert uns das Meinungsspektrum wissenschaftlicher Experten Informationen, die entscheidungstheoretisch unverzichtbar sind. […] Wir sollten alle hinreichend günstigen potentiell wirksamen Maßnahmen ergreifen, sobald eine signifikante Minderheit der globalen Expertengemeinschaft sie befürwortet.

Nikil Mukerji, Adriano Mannino: Covid-19: Was in der Krise zählt. Über Philosophie in Echtzeit, 58f.

Eine signifikante Minderheit

Die Meinung einer Minderheit von Fachleuten kann aus erkenntnistheoretischer Sicht gewisse Maßnahmen bereits hinreichend rechtfertigen. Das schreiben Mukerji und Mannino in ihrem Essay – vor dem Hintergrund all dessen, was bis April 2020 geschehen ist. Im selben Monat erscheint das Büchlein In Zeiten der Ansteckung von Paolo Giordano. Verfasst im italienischen Lockdown liefert es einen anderen, literarisch-schönen Blick auf die Coronakrise.

Wir durchleben eine Zeit der Suspendierung des Alltags, eine Unterbrechung des Rhythmus, wie manchmal in Songs, wenn das Schlagzeug verstummt und es wirkt, als würde die Musik angehalten. Schulen und Universitäten geschlossen, wenige Flugzeuge am Himmel, einsam hallende Schritte in den Museen, überall mehr Stille als normal. Ich habe beschlossen, diese Leere mit Schreiben auszufüllen. […] Ich möchte mir nicht entgehen lassen, was uns diese Epidemie über uns selbst enthüllt. Ist die Angst überwunden, verfliegt jede flüchtige Einsicht im Nu – wie das bei Krankheiten immer ist.

Paolo Giordano: In Zeiten der Ansteckung, 11f.

Erfahrungshorizont und Vorstellungskraft

Im ersten Drittel dieses Jahres erlebten wir den Ausbruch und die erste Welle einer Pandemie, wie es sie seit über 100 Jahren nicht gegeben hat. Sie überstieg unser aller Erfahrungshorizont und für viele von uns auch die Vorstellungskraft. Ich selbst hätte es Anfang Februar nicht für möglich gehalten, dass Mitte März, bei sonnigstem Wetter, die Straßen an sieben Tagen die Woche gespenstisch leer sein würden. Dass ich nur zum Einkaufen das Haus verlassen und nur mit Maske den Supermarkt betreten dürfte. Vorbei an der Security, auf Abstand zu anderen Kunden und verzweifelt auf der Suche nach Klopapier. Dass an teils leergefegten Regalen Hinweise hingen, Nudeln nur in mäßigen Rationen zu kaufen. 🛒

Trotz dieses ungewohnten Anblicks fiel es unseren Mitbürgern offensichtlich schwer zu verstehen, was mit ihnen geschah. Es gab die gemeinsamen Gefühle wie Trennung oder Angst, aber die persönlichen Sorgen standen auch weiterhin im Vordergrund. Noch niemand hatte die Krankheit wirklich akzeptiert. Die meisten waren vor allem empfindlich für das, was ihre Gewohnheiten störte oder ihren Interessen schadete. Darüber waren sie gereizt oder verärgert, und das sind keine Gefühle, die man der Pest entgegensetzen konnte.

Albert Camus: Die Pest, 89.

Störung der Gewohnheiten

Moment mal – der Pest? Ja, diese Zeilen stammen aus dem Roman Die Pest von Albert Camus. Geschrieben 1947 und doch gedanklich nah an unserer Zeit. Damals wie heute reagieren wir empfindlich auf die Störung von Gewohnheiten. Das bemerkt auch Paolo Giordano. Im Lockdown schreibt er:

Niemand mag ausgeschlossen sein. Und zu wissen, dass unsere Abschließung von der Welt vorübergehend ist, genügt nicht, um das Leiden zu beseitigen. Wir haben das verzweifelte Bedürfnis, unter anderen Menschen, mit ihnen zusammen zu sein, in weniger als einem Meter Abstand von jenen, die für uns wichtig sind. Das ist ein konstantes Bedürfnis, es gleicht dem Atmen. Also erfasst uns eine Regung des Protests: Ich lasse mich nicht fremdbestimmen, ich werde keinem Virus erlauben, mein Sozialleben kaputt zu machen.

Paolo Giordano: In Zeiten der Ansteckung, 33.

Zahlen und Zweifel

Am 1. Mai werden alljährlich Großdemos und Kundgebungen veranstaltet, oder Radtouren durchs Grüne, je nach politischem Ehrgeiz oder persönlicher Laune. Jedenfalls ist dieser Tag ein Feiertag. Doch 2020 gibt es nichts zu feiern. Ob der Deutsche Gewerkschaftsbund oder die IG Metall – statt Demos gibt’s Videos, virtuelle Solidarität als Gebot der Stunde. In Berlin und Hamburg sieht es anders aus. Mal mit Abstand und Maske und mal ohne finden sich dort tausende von Menschen zusammen und geraten teils mit der Polizei aneinander (siehe RBB und Tagesschau). Am Tag darauf demonstrieren erstmals »hunderte von Menschen an mehreren Orten gleichzeitig gegen die Corona-Maßnahmen (siehe MDR). Rückblickend heißt es in dem Spiegel-Bestseller Corona Fehlalarm? mit einigem Nachdruck:

Liebe Frau Merkel, lieber Herr Spahn, die Pandemie WAR VORBEI! […] Die Zahlen aller Länder – für jeden jederzeit einsehbar u. a. auf der Homepage der Johns Hopkins Universität – zeigten klar, dass überall in Europa die »Corona-Pandemie« vorbei war. […] Das war kein Erfolg von Abstands- und Hygieneregeln, die Corona-Viren zogen sich – wie jedes Jahr im Mai – zurück.

Sucharit Bhakdi, Karina Reiss: Corona Fehlalarm?, 72.

Juni bis August 2020

Und es stimmt, die Zahlen in Europa gehen zurück, während sie in Südamerika und Ländern wie Indien, Russland und Südafrika weiter steigen. Am 1. Juni und 1. Juli liegen die Zahlen der Neuinfektionen bundesweit nur im dreistelligen Bereich. In Deutschland macht sich der Sommer bemerkbar, die Ebbe zwischen den Wellen.

Vorübergehend wird es ruhiger um das Coronavirus. Stattdessen geht ein Video viral: Die Zerstörung des Corona-Hypes zielt darauf ab, sämtliche Maßnahmen zur Eindämmung des Virus als ungerechtfertigt zu entlarven. Faktenchecks zum Video lassen nicht lange auf sich warten, etwa – ganz sachlich – seitens SWR3 und – etwas derber – vom Volksverpetzer, sowie – sehr ausführlich – von Correctiv. Einen Meta-Faktencheck liefert der Verein Mimikama, der sich gegen Falschinfos im Internet einsetzt. Ebenfalls im Juli ereignen sich die ersten größeren Corona-Unruhen Europas, in Serbien, auf den Straßen von Belgrad. Die Proteste richten sich gegen das inkonsistente Krisenmanagement seitens der Regierung. Zitat einer Demonstrantin:

Sie spielen mit unserem Verstand und mit der Wahrheit. Wenn sie gerade Wahlen veranstalten wollen, dann gibt’s kein Corona. Sie organisieren Fußball- und Tennisspiele, und deshalb stecken wir in der Lage, dass die Krankenhäuser voll sind.

Dragana Grncarski via New York Times

Am 1. August steigen die Fallzahlen in Deutschland wieder an. Kommuniziert werden sie durch das Robert-Koch-Institut (kurz: RKI), das als Bundesinstitut für Infektionskrankheiten (und nicht übertragbare Krankheiten) in Sachen Coronavirus zuständig ist. Es bezeichnet die Lage Anfang August als »beunruhigend« und eine »ernst zu nehmende Situation.« Viele können’s jedoch nicht mehr hören und wollen den Sommer genießen. Nochmal Albert Camus.

Lückenhafte Datenlage

Tatsächlich sprach die Meldung, in der dritten Pestwoche habe man dreihundertundzwei Tote gezählt, nicht die Phantasie an. Zum einen waren vielleicht nicht alle an Pest gestorben. Und zum anderen wusste niemand in der Stadt, wie viele Leute in normalen Zeiten pro Woche starben. […] Man wusste nicht, ob diese Rate von Todesfällen normal war. Das ist eben die Art von genaueren Angaben, um die man sich, trotz ihrer offensichtlichen Bedeutung, nie kümmert. Der Öffentlichkeit fehlten gewissermaßen Vergleichsdaten.

Albert Camus: Die Pest, 90.

Daran hat sich bis zur Coronakrise scheinbar nichts geändert. »[S]olange die Datenlage so lückenhaft und widersprüchlich« sei, verkündete der Philosoph Michael Salomon-Schmidt als Sprecher der Giordano-Bruno-Stiftung im März, sehe er sich »außer Stande, irgendetwas Substanzielles zu dieser Krise zu sagen«. Im Oktober heißt es im Jahresmagazin der Stiftung, dass die Daten »leider noch immer lückenhaft« seien. In dem bereits erwähnten Essay von Mukerji und Mannino loben die Autoren eine solch bescheidene Haltung »für sich genommen« – betonen aber, dass es nicht nur möglich, sondern »geboten« sei, »etwas Substantielles zur Covid-19-Pandemie zu sagen«, auch schon im April. (Nikil Mukerji, Adriano Mannino: Covid-19: Was in der Krise zählt, 16.) Sie nennen es »Philosophie in Echtzeit« und antworten auf die Frage, was jetzt zu tun sei:

Am wichtigsten ist es, nicht die Orientierung zu verlieren. Das bedeutet […], dass man sich das Ausmaß der Katastrophe immer wieder neu vergegenwärtigt – in Zahlen.

Nikil Mukerji, Adriano Mannino: Covid-19: Was in der Krise zählt, 63.

COVID-19 Dashboard der JHU

Zahlen bieten ein ach so festes Fundament. Wir haben es als Kinder gelernt: 2 + 2 = 4, daran ist nicht zu rütteln. Andererseits, eine 4 als Note lässt sich anzweifeln. Die Mathelehrerin mag noch rechtfertigen können, wie sie zustande kommt – der Deutschlehrer hat’s da weniger einfach. Das haben wir dann spätestens als Jugendliche gelernt: Zahlen lassen sich anzweifeln, Interpretationen erst recht. Sich »das Ausmaß der Katastrophe […] in Zahlen« zu vergegenwärtigen, das heißt letztendlich: Statistiken zu betrachten, diese Gemälde aus Zahlen. 📈 Die einen interpretieren eine Linie als »zu hoch«, die anderen als »nicht so hoch«. Wieder andere halten die Linie für falsch und ziehen eine andere Statistik heran. Das wirft die Frage auf: Welcher Statistik können wir denn trauen?

Bei der vorhin im Zitat genannten Homepage der John-Hopkins-Universität (kurz: JHU) handelt es sich um deren COVID-19 Dashboard, die wohl meistgenutzte Informationsquelle für aktuelle Fall- und Todeszahlen auf Basis zahlreicher Quellen aus aller Welt. (Zur Quellensammlung; über das Zustandekommen der Zahlen, siehe: Beiträge von Cicero und RP-Online.)

Wegen einigen dieser Quellen steht die JHU in der Kritik, ebenso sorgen Unstimmigkeiten zwischen den Zahlen der JHU und anderen Einrichtungen wie dem deutschen Robert-Koch-Institut immer wieder für Zweifel. Hinsichtlich unseriöser Quellen kann ich die Kritik teilweise nachvollziehen, was Abweichungen oder Unstimmigkeiten angeht, eher nicht. Wie gesagt: Bis Zehn zählen ist einfach, bei zehn Bällen in Bewegung wird’s schwierig – und in einer quirligen Masse von vielen Milliarden Menschen sowas wie Virusinfektionen zu zählen, das ist ein gigantisches Projekt.

Zuverlässiges Gesamtbild

Wenn auf aller Welt hunderte Stellen dafür zuständig sind, Daten zu sammeln, in verschiedenen Sprachen, mit unterschiedlichen Methoden und Mitteln, dann ergeben sich beim Übersetzen und Zusammenführen natürlich Fehler und ein im Detail immer etwas unstimmiges Bild. Alles andere würde mich zutiefst skeptisch stimmen. Wenn ich mir vorstelle, dass sämtliche veröffentlichte nationale und globale Statistiken exakt übereinstimmen würden, dann hätte auch ich den Verdacht, dass es eine zentrale Steuerung und gleichmachende Manipulation geben muss.

Stattdessen entspricht das chaotische Bild meiner Grundannahme, dass irrsinnig viele Handelnde an diesem Vorhaben beteiligt sind. Sicher steht hinter mancher Statistik die Motivation, die Krise eher drastisch darzustellen, hinter anderen wiederum, die Krise eher harmlos darzustellen. Und hinter den meisten dürfte die Motivation stehen, einfach nur die riesige Datenmasse möglichst fehlerfrei aufzubereiten. Wenn nun so viele, zumal transparent aufgeführte und einsehbare Quellen zusammenfließen, wie es beim Dashboard der JHU der Fall ist, ergibt sich daraus ein für mich hinreichend zuverlässiges Bild. Dasselbe gilt für die Zahlen des Robert-Koch-Instituts, die sich aus den Angaben der lokal zuständigen Gesundheitsämter zusammensetzen. (Wer wird als Corona-Toter gezählt und wer nicht? Dazu bietet der Bayerische Rundfunk einen lesenswerten Beitrag.)

Alarmismus und Einordnung

Kritik am RKI gibt es u. a. wegen fehlender »Einordnung der Zahlen« zur Coronakrise. Dazu sagt der Virologe Hendrik Streeck in der Doku Corona: Sicherheit kontra Freiheit, veröffentlicht im November dieses Jahres:

Wenn wir nur warnen, haben wir später keinen Mechanismus mehr zu sagen: Jetzt wird es wirklich brenzlig. Von daher finde ich auch die Veröffentlichung der Fallzahlen oder, ja, der Alarmismus drumherum nicht wirklich zielführend.

Hendrik Streeck, in: Corona: Sicherheit kontra Freiheit (Min. 19:00)

Keine Veröffentlichung der Zahlen ist aber keine Alternative. 🤷🏻‍♂️ Es wäre doch nicht weniger alarmierend, wenn die zuständige Bundesbehörde in Deutschland einfach darauf verzichtete, die Öffentlichkeit mit aktuellen Zahlen zu versorgen.

Als die Tageszeitungen beschlossen, die Zahl der Ansteckungen nicht mehr auf ihrer Homepage zu veröffentlichen, war ich unzufrieden und fühlte mich verraten. Ich begann, andere Quellen zu konsultieren. In Zeiten der Ansteckung ist transparente Information kein Recht: Sie ist ein wesentliches Element der Prophylaxe [das heißt: Vorbeugung].

Paolo Giordano: In Zeiten der Ansteckung, 71.

Was soll ich tun?

Zur Vorbeugung ist es längst zu spät. Was den »Alarmismus« im Rahmen der Coronakrise betrifft, so habe ich es lieber, wenn Behörden eine Situation »sehr beunruhigend« nennen, als wenn Staatsoberhäupter behaupten, das Virus werde auf magische Weise verschwinden. Und was die Einordnung der Zahlen angeht, im Sinne eines Vergleichs mit anderen Jahren, Krankheiten, Ländern, liegt diese Aufgabe doch eher beim Journalismus, der Politik und letztlich uns selbst, die wir alle miteinander diskutieren, welche Handlungen aus den Zahlen abzuleiten sind. Die Fragen »Was sollen wir tun?« und »Was soll ich tun?« sind moralisch motivierte Fragen und damit wieder eine Angelegenheit der Philosophie, genauer: der Moralphilosophie – also der Ethik, die sich mit menschlichem Handeln befasst.

Hinweis: Im kleinen Einmaleins zur Katastrophenethik gibt’s Antworten darauf, was Ethik in Zeiten der Coronakrise bedeutet.

Die zweite Welle der Coronakrise

September bis Dezember 2020

Die zweite Welle der Coronakrise ist längst angerollt und noch in vollem Gange. Bereits am 1. September beherrscht sie die Medien. Die einen schreiben über sinkende Zahlen und spekulieren über einen Grund zur Hoffnung. Die anderen schreiben von steigenden Zahlen und fragen, ob die Gesundheitsämter vorbereitet seien? Oder hätten am Ende die recht, die das Virus nie als ernste Gefahr gesehen haben, weil es ihn nicht gibt, den Wolf, vor dem die Schafe scheu werden? 🐑

Es gibt derzeit keine zweite Welle. Nicht ein Mehr an Sterbefällen, nicht ein Mehr an Hospitalisationen, nicht ein Mehr an schweren Verläufen. Doch das sind die relevanten Zahlen, wenn man die Gefährlichkeit einer Epidemie ehrlich bewerten und staatliche Zwangsmass-nahmen darauf stützen will.

Milosz Matuschek über die Coronakrise, via NZZ

Diese Argumentation verdeutlicht das Dilemma aller Präventionsarbeit. Eine Gefahr – und mag sie noch so wahrscheinlich sein – muss erst eintreffen, um »Zwangsmaßnahmen« zu rechtfertigen. Das beschränkt unsere Handlungsfähigkeit auf reine Reaktion, immer einen Schritt hinterher.

Am 1. Oktober steigen die Fallzahlen in Deutschland wieder, bis zum 1. November hat sich die Zahl der intensivmedizinisch behandelten COVID-19-Fälle binnen zwei Wochen verdreifacht. Am 1. Dezember hat die Zahl der täglich neu gemeldeten Todesfälle nachgezogen, ist wieder im dreistelligen Bereich und überschreitet erstmals die Höchstwerte aus der ersten Welle.

Was darf ich hoffen?

Seitdem ist keine Besserung in Sicht, auch wenn in diesem Monat bereits die ersten Menschen geimpft werden können – zuerst in Großbritannien, inzwischen auch in Deutschland. In ihrer Neujahrsansprache warnt Merkel, dass dennoch weiterhin schwere Zeiten bevorstehen. Sie gedenkt der Verstorbenen, und sie würdigt die Mitwirkenden hinter dem deutschen Unternehmen BioNTech, das den ersten in Europa und vielen Ländern der Welt zugelassenen Impfstoff entwickelt hat.

Während das öffentliche Leben in weiten Teilen auf die Bremse treten musste, bis hin zum radikalen Stillstand, hat die Entwicklung von Impfstoffen in der Coronakrise eine immense Beschleunigung erfahren. Wohl noch nie sind so viel Geld und Tatkraft in ein Projekt geflossen, das über viele verschiedene Wege demselben Ziel entgegenstrebte: Möglichst rasch ein Mittel gegen COVID-19 finden. Dass es gelungen zu sein scheint, binnen Monaten, hat das Science-Magazin zurecht als »Durchbruch des Jahres« beschrieben.

Argumente und Wahrheit

Als große Verliererin des Jahres ließe sich unsere Streitkultur auszeichnen. Ursprünglich hatte ich vor, hier noch auf einige der Argumente einzugehen, die 2020 so vorgebracht worden sind. Ich hätte sie gerne auf ihre Gültigkeit und Schlüssigkeit untersucht, sowas wie »Logik 101«. Ich habe mich dagegen entschieden, weil – erstens: der Beitrag zu lang wird, und zweitens: – Argumente zurzeit erschreckend wenig ausrichten. Ein Argument besteht aus Annahmen (den Prämissen) und einer Schlussfolgerung (der Konklusion). Gültig ist ein Argument, wenn der Schluss von den Prämissen zur Konklusion logisch korrekt ist. Schlüssig ist es dann, wenn die Prämissen auch wahr sind. »Wahrheit« ist jedoch ein umstrittenes Konzept.

Einer weit verbreiteten Auffassung nach gilt als wahr, was »mit den Tatsachen übereinstimmt« (Korrespondenztheorie). (Vgl. Ansgar Beckermann: Wahrheit, in: Grundbegriffe der Philosophie, 326f.)

Aber was ist die Wahrheit, wenn man dieselben Daten befragt und dieselben Modelle verwendet, aber zu entgegengesetzten Ergebnissen gelangt?

Paolo Giordano: In Zeiten der Ansteckung, 65.

In der Logik ist vom »Wahrheitswert« einer Aussage die Rede. Doch die Logik kümmert es wenig, was hinter den Werten w oder f, wahr oder falsch steht. Hauptsache, die logische Form stimmt. Und auch im echten Leben kann die Wahrheit als Wert ausgeklammert werden. Das ist kein neues Phänomen.

»Ich bin ehrlich.«

Vor 20 Jahren hat Jürgen Neffe, Journalist und Autor von brillanten Biografien, etwa über Einstein und Darwin, mit einem Mann gesprochen, der ihm auf die Frage nach seiner seelischen Verfassung folgendes antwortete.

»Ich bin ehrlich. Weil ich sage, was ich denke. Mehr müssen Sie nicht über mich wissen.« Diese Erklärung von Ehrlichkeit empfand ich damals als ziemlich ehrlich. Und zugleich als äußerst ungewöhnlich, da sie nicht die Wahrheit zu ihrem Ausgangspunkt machte.

Jürgen Neffe: Das Ding. Der Tag, an dem ich Donald Trump bestahl, 88.

Wenn die Ich-Bezogenheit selbst die Wahrheit in sich aufsaugt – etwas ist wahr, weil ich es so sehe – dann haben wir ein Problem. Wie gehen wir, als Gesellschaft, damit um? Wir können es verdrängen, nicht darüber reden. Oder wir können es uns gegenseitig zuschieben, bis es bestenfalls, zusammen mit der Coronakrise, von selbst verschwindet.

Oder wir können uns bemühen, der Epidemie einen Sinn zu geben. Wir können diese Zeit besser verwenden, darüber nachdenken, was zu denken die Normalität uns hindert: wie wir bis zu diesem Punkt gekommen sind, wie wir neu starten wollen.

Paolo Giordano: In Zeiten der Ansteckung, 77.

Coronakrise 2021 · Ausblick

2020 war ein Jahr, das unser aller Leben verändert hat. Welche Lehren ziehen wir aus der Coronakrise? Ernstgemeinte Frage. Wie hast du die Krise bisher erlebt und was hast du daraus gelernt? Schreib’ dazu gerne einen Kommentar unter den Beitrag. Wer weiß, wem deine Einsichten helfen können, wem sie Ängste nehmen, Hoffnung geben, Trost spenden oder die Augen öffnen, für Dinge, die wir nicht selbst erlebt haben. »Denn wer nur aus den eigenen Fehlern lernt, lernt wenig – zu wenig.« (Mukerji, Mannino: Covid-19: Was in der Krise zählt, 11.)

Warnungen ⚠️

Ich selbst komme mir rückblickend blöd vor, weil ich sowas wie die Coronakrise nie erwartet hätte. Inzwischen gibt’s genug Verweise auf all die Warnungen, die es vorweg gab. Für eine Zusammenfassung verstrichener Warnungen siehe Cordt Schnibben, David Schraven (Hg.): Corona, 20ff.

Nun können wir diese Warnungen zum Anlass nehmen, die Geschichte vom Ende her zu erzählen: Wer heute von der Pandemie profitiert, und vorher schon von der Möglichkeit dieses Szenarios gesprochen hat, macht sich doch verdächtig. Solche Ideen ergeben spannende Geschichten mit Bösewichten und Komplotten, kurzum: Krimi-Stoff. Doch das echte Leben lässt sich nicht auf einen Plot reduzieren – sondern ist mit seinen vielen Beteiligten und Handlungssträngen eher wie Game of Thrones, nur ohne Drachen (and that’s why it sucks). Das echte Leben besteht aus unzähligen miteinander verstrickten Geschichten, von denen einige spannend sind, viele langweilig – und die langweiligsten Geschichten sind die von gelungener Prävention. Denn da passiert gar nix.

Zurück zum Ausbruchsort

Mein Versuch bestand darin, die Coronakrise vom Anfang her zu erzählen, mit jener Bekanntmachung der WHO, dass sie über eine neue Lungenkrankheit in Wuhan informiert worden sei. Schon im Februar gab es Hinweise darauf, dass der Feinkost-Nassmarkt nicht der Ausbruchsort gewesen sein muss.

Und es wurde spekuliert, ob das Virus aus dem Institut für Virologie in Wuhan, weniger als 300 Meter von jenem Markt entfernt, ausgebüxt sei. (Botao Xiao: The possible origins of 2019-nCov coronavirus, Februar 2020.) Von all den Theorien, die es zum Ursprung von SARS-CoV-2 gibt, erscheint mir diese eine noch als halbwegs plausibel. (Wohlgemerkt nicht die Idee, dass es sich dabei um eine gezielt entwickelte Biowaffe handele.)

Doch auf solche Aspekte der Coronakrise wollte ich mich hier nicht konzentrieren. Ich denke, dass es vergleichsweise wenig zur Sache tut, wann, wie und wo das Virus genau auf den Menschen übergesprungen ist.

Versäumnisse der Politik

Tatsache ist, dass wir »nicht nur Teil der menschlichen Gemeinschaft sind«. So hat es Paolo Giordano geschrieben, in seinem hier viel zitierten, empfehlenswerten, wunderbaren Büchlein zur Coronakrise, In Zeiten der Ansteckung. Wir seien auch »die invasivste Spezies in einem zerbrechlichen und großartigen Ökosystem.« (Paolo Giordano: In Zeiten der Ansteckung, 57, 60.) Und weil wir so viel darin herumpfuschen, weil wir in die Lebensräume so vieler Tiere eindringen und sie ausbeuten – aus diesen und anderen Gründen galt eine Pandemie, wie wir sie erleben, seit langem als hoch wahrscheinliches Ereignis.

In der Wissenschaft war das bekannt, in der Politik auch.

Letzteres ärgert besonders: dass die Menschen, denen wir ein Mandat gegeben haben – einen Auftrag, unsere Interessen zu vertreten – dass ausgerechnet diese Menschen die Gefahr anscheinend unterschätzt und die rechtzeitige Vorsorge versäumt haben. Darüber können wir uns jetzt aufregen und Anklage erheben.

Versäumnisse der Gesellschaft

Doch Tatsache ist auch, dass es gar nicht so sehr im Interesse der meisten Bürger*innen lag, gegen eine mögliche Pandemie vorzusorgen. Nicht, weil wir’s nicht ahnen konnten, dass die Wahrscheinlichkeit einer Pandemie so groß war. Es gab genug Stimmen, die diese Botschaft »unters Volk« gebracht haben. (Stimmen wie Bill Gates, dessen TED Talk über die Gefahren von Virus-Epidemien, seit 2015 zig Millionen Menschen sahen. Im März 2020 sprach Gates über die aktuelle Pandemie. Zur Philantrophie von Superreichen vgl. auch Mukerji, Mannino: Covid-19: Was in der Krise zählt, 109.) Genauso, wie wir uns sehr gut über Klimawandel und Künstliche Intelligenz informieren können.

Eine Demokratie funktioniert nur, wenn die Bevölkerung bereit ist, sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Wenn wir kein Interesse an solch großen gesellschaftlichen Themen und Zukunftsfragen zeigen, gibt es in dieser Hinsicht auch keine Interessen zu vertreten. Um miteinander das Sein und das Sollen unserer politischen Existenz auszuhandeln und zu verteidigen, ist es wichtig, als Gesellschaft in einem »großen Gespräch« zu bleiben. 💬

Gradmesser für die Demokratie

Wenn dieses Gespräch erlischt und durch professionelle Manipulatoren zerstört wird, wenn Desinformation und Falschnachrichten einen basalen Realitätskonsens pulverisieren, verliert eine Demokratie erst ihr inneres Leuchten und hört dann auf zu existieren. […] Die Art und Weise des Sprechens und Streitens ist der entscheidende Gradmesser demokratischer Vitalität. Wir bringen die Welt, in der wir leben, erst im Miteinander-Reden hervor.

Bernhard Pörksen, Friedemann Schulz von Thun: Die Kunst des Miteinander-Redens, 40.

Diese Art und Weise des Sprechens und Streitens reicht natürlich bis ins Internet. Wir kommentieren viel mehr, als das wir miteinander kommunizieren. Doch potenziell kann aus jedem Kommentar ein Gespräch erwachsen – solange der Tonfall es nicht direkt verhindert. Was auch immer du zu sagen hast, Anonymität hin oder her, mach’s ohne Aggression oder gar Beleidigung. Das bringt uns ja nicht weiter. Nun, was bringt uns denn weiter? 🤔

Fazit und Vorsatz

Politiker*innen, die auf Zeit gewählt werden, sind oft an ihrer Wiederwahl oder ihrem Vermächtnis interessiert. Und daher eher an messbaren, sichtbaren Erfolgen, als daran, Dinge zu verhindern. Wie gesagt: Gute Prävention hat keine Ergebnisse zu präsentieren. Vorbeugende Maßnahmen wird die Politik auch in Zukunft nur insoweit ernstnehmen, wie es dem öffentlichen Interesse entspricht. Erst wenn wir als Wähler*innen deutlich machen, dass uns die Verhinderung von Katastrophen ein Anliegen ist, dann können wir von der Politik auch erwarten, dieses Anliegen durchzusetzen. Wir geben die Prioritäten vor. Und wir entscheiden auch über den Rahmen mit, in dem wir über unsere Zukunft sprechen. Denn Katastrophenschutz-Maßnahmen müssen ja nicht nur im Lichte dessen stehen, was zu verhindern ist, sondern, was wir gewinnen können (#gainframe).

Mein Vorsatz fürs Jahr 2021 ist, mehr Klarheit darüber zu erlangen, wie ich mich heutzutage, mit dem Internet als Segen und Fluch, zielführend und »nach bestem verfügbaren Wissen und Gewissen« (Mukerji, Mannino: Covid-19: Was in der Krise zählt, 19) informieren kann. Darüber, was denn die Prioritäten sind, denen wir in Öffentlichkeit und Politik mehr Beachtung schenken sollten.

Vom ersten Tag des neuen Jahres an will ich Antworten auf ein paar grundlegende Fragen suchen: Wie sieht Allgemeinbildung im 21. Jahrhundert aus? Was muss ich können und wissen, um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und meinen Beitrag zu leisten? Und welche Hebel kann ich als einfacher Mensch überhaupt betätigen, um etwas zu bewirken?

Was ist der Mensch? 📖

Soviel von mir. Zu guter Letzt noch Buchtipps!

Im Jahr 2020 sind ein paar Werke erschienen, die unterschiedliche Interessen bedienen, und jedes für sich empfehlenswert sind. Als Vorbereitung für meinen Neujahrsvorsatz habe ich Bildung – Eine Anleitung von Jan Roß gelesen und als sehr bereichernde Lektüre empfunden. Um Zwischendurch mal der Coronakrise zu entfliehen, ist Das Evangelium der Aale von Patrick Svensson genial. Es ist teils Vater-Sohn-Geschichte, teils Sachbuch rund um den Aal, teils philosophischer Gedankengang zur Frage: Was ist der Mensch? Ebenfalls dazu, mit Fokus auf Sprache und Werte sind Sprache und Sein von Kübra Gümüşay und, von Markus Gabriel, Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten lesenswert.

Wenn diese dunklen Zeiten der Coronakrise dann endlich vorbei sind, und wieder die üblichen harten Zeiten anbrechen – wenn wir also feststellen, dass alle anderen gesellschaftlichen Probleme noch da sind und durch die Coronakrise allenfalls verstärkt wurden, dann bietet das Buch Gute Ökonomie für harte Zeiten von Abhijit Banerjee und Esther Duflo einen wirklich guten Ausgangspunkt, um diese Probleme in Angriff zu nehmen.

Danke für die Aufmerksamkeit.

Hinweis: Hier geht’s zum gesamten Beitrag als PDF sowie zum Literaturverzeichnis.

3 Gedanken zu „Coronajahre 2020–21“

  1. Lieber David Johann Lensing,
    ich bin nicht annähernd so gebildet wie Sie. Aber eine Regierung, bestehend aus einem Gesundheitsminister den ich als Pharmalobbyist sehe, eine Kanzlerin, die die Pandemie erst als beendet sieht, wenn 7 Milliarden Menschen geimpft sind und einem Gesundheitsexperten der gerne Kinder impfen lassen will, mit einem Stoff bei dem nicht einmal der Hersteller weiß, ob und mit welchen Folgeschäden zu rechnen ist. Das diese Pandemie genau dann ausbricht, wenn mal wieder das Finanzsystem am Ende ist, mag ja Zufall sein. Entweder ist diese Pandemie ein Fake, oder sie wird von Vollversager gemanagt.

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  2. Da waren Sie, Herr Lensing, doch kurz davor die Höhle zu verlassen, sind aber noch bevor sich Ihre Augen an das Licht gewöhnen konnten, freiwillig zurück in die Grotte gegangen. Nun sitzen Sie wieder da, gefesselt und mit starren Blick auf die Schatten im Kreise Ihrer Gleichgesinnten. Sie sind jung und müssen noch viel lernen.
    Es braucht eben eine gewisse Reife und Lebensalter (und damit Weisheit) um die komplexe Philosophie halbwegs zu verstehen. Es ist wie mit den Langzeitwirkungen bei den Corona „Impfstoffen“. Zeit lässt sich nicht erkaufen. Wir werden in ein paar Jahren sehen wohin uns der Gehorsam geführt hat.
    Herzlichst wünsche ich Ihnen und Ihrer Familie dass Sie diese Zeit ohne gesundheitliche Schäden überstehen.

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