Filmkunst aus Russland: Eine Verneigung vor der Freiheitsliebe, verpackt in einem Biopic über Rockmusik – das ist Leto von Kirill Serebrennikow.
Kirill Serebrennikow (geb. 1969) ist ein preisgekrönter russischer Film- und Theater-Regisseur. 2017 wurde er wegen angeblicher Veruntreuung staatlicher Gelder festgenommen wurde. 2018 inszenierte er vom Gefängnis in Russland aus eine Oper in Zürich.
Teamwork macht’s möglich – denn Kulturschaffende halten zusammen. 🎭 Auch in Deutschland genießt Serebrennikow großes Ansehen. Nach seiner Festnahme bemühte sich Merkel um eine Rücknahme der Maßnahmen gegen ihn, jedoch vergeblich.
Inzwischen wurde Serebrennikow zu einer dreijährigen Bewährungsstrafe verurteilt.
Trotz aller Repressalien ist es ihm gelungen, nach Jahren unter Hausarrest und Reiseverbot im Januar 2022 zu Proben und Premiere seines Stücks Der schwarze Mönch nach Hamburg zu kommen.
In diesem Beitrag geht es nicht um den Theater-Regisseur Serebrennikow, sondern um dessen Filmschaffen 🎬 – am Beispiel des Biopics Leto.
🎧 Aus aktuellem Anlass: Über den von Russland geführten Krieg in Europa sprechen wir in Episode 9 unseres Podcasts Schrott oder Schrein.
Leto · Filmkritik zum Biopic
Ein Biopic über Rockmusik in den repressiven Zeiten der Sowjetunion läuft auf den Internationalen Filmfestspielen in Cannes, während der Regisseur per Beschluss der russischen Justiz unter Hausarrest steht.
Es war dieses Politikum im Frühjahr 2018, das dem Film Leto von Kirill Serebrennikow einerseits Aufmerksamkeit brachte und andererseits von ihm ablenkte.
Im Folgenden soll es nicht um den Fall Serebrennikow gehen. Wir richten den Fokus auf den Film selbst, der auch ohne äußere Umstände als kontroverses Kunstwerk aufgefasst wird.
Das ist vollkommen blödsinnig. – Meinst du mit »vollkommen« »perfekt«? – Zitat aus Leto
Deutscher Trailer zum Film Leto
📌 Tipp: Weitere Filmkritiken in Bild und Ton gibt’s auf meinem YouTube-Kanal. Eine Anleitung zum Schreiben einer Filmkritik bietet dieser Praxis-Guide. ✍️
Trotz aller Restriktionen
St. Petersburg in den 80er Jahren – und es war Sommer (russisch: leto). Der Musiker Mike Naumenko (Roman Bilyk) und seine Frau Natalia (Irina Starshenbaum) lernen Viktor Tsoi (Teo Yoo) kennen, selbst ein junger Sänger und Songwriter.
Viktor freundet sich mit dem Paar an, feilt mit Mike an seinen Songs und verdreht Natalia den Kopf.
Die Dreiecksbeziehung entspinnt sich inmitten einer neuen Musikbewegung. Die bahnt sich trotz – oder wegen – aller staatlichen Restriktionen in der Sowjetunion ihren Weg, unter Einfluss der Rock’n’Roll-Ikonen aus dem Westen, von Lou Reed bis Iggy Pop.
Kirill Serebrennikow veranschaulicht in Leto auf großartige Weise die Konfrontation zwischen zwei musikalischen Welten, zwei unverwechselbaren Universen und die Vermischung östlicher und westlicher Kultur.
Ilya Stewart, Produzentin des Films
Der Film Leto basiert lose auf der wahren Geschichte um die russische Rockband Kino und ihren Frontmann Viktor Tsoi. Hierzulande ist er vergleichsweise unbekannt, in Russland eine Ikone des Rock’n’Roll. 🎸
📌 Tipp: Der am heißesten erwartete Musikfilm des Jahres 2018 war übrigens nicht Leto, sondern Bohemian Rhapsody, hier ein Beitrag zum Biopic über Freddie Mercury.
Ein Großteil der Szenen von Leto ist wohlgemerkt so familiär, geradezu intim, dass sie kaum als Adaption dokumentierter Geschehnisse durchgehen können.
Das alles ist nie passiert
Es handelt sich um mögliche Szenen aus dem Leben eines charismatischen Menschen. Zum Teil sind es inszenierte Erinnerungen der echten Natalia Naumenko.
Die Fan-Community ist geteilter Meinung über Leto. Ein Teil hat uns sehr unterstützt – die Leute halfen und berieten uns – während ein anderer Teil stark gegen den Film war, mit der Auffassung, wir täten etwas geradezu frevelhaftes.
[Der Regisseur] Kirill brauchte die Freiheit, einen Spielfilm zu machen, keine Dokumentation. Und eine seiner ersten Entscheidungen war, keinen Film über die Marke »Viktor Tsoi« zu drehen – sondern über Viktor, den jungen Musiker, der gerade erst startet.
Ilya Stewart im Interview (Quelle)
Fun Fact: Mit der Figur des Skeptikers, der im Film hin und wieder ein Schild hochhält – »Das alles ist nie passiert!« – ist der Regisseur etwaiger Kritik an der Authentizität dieser Geschichte eigentlich ziemlich elegant zuvorgekommen.
Und so liegt das Gewicht zu Beginn auch mehr auf Mike Naumenko, dem Mentor und Förderer des jungen Viktor Tsoi – selbst eine charismatische Persönlichkeit im Film und im wirklichen Leben.
Den Schauplatz des Geschehens, St. Petersburg Anfang der 80er Jahre, nannte Naumenko nach Aussage von Natalia nie beim Namen »Leningrad«. So lautete die offizielle Bezeichnung der Stadt von 1924 bis 1991 – ausgerechnet dem Todesjahr Naumenkos.
Der sowjetische Musiker hat sich stets sehr von der Musik des Westen – jenseits des Eisernen Vorhangs – beeinflussen lassen und diese Einflüsse auf seine Kreise übertragen.
Für einige war Mike ein Lehrer, für andere ein verständnisvoller Freund. Er kannte sich gut im Englischen aus und las das Rolling Stone, Melody Maker… keine Ahnung, wo er sie herbekam. […]
Von Mike konnte man erfahren, welche Platte gerade herauskam und was sich zu hören lohnte. […] Es ist unwahrscheinlich, dass ich – und nicht nur ich – sonst Lou Reed gehört hätte.
Natalia Naumenko im Interview (Quelle)
Zum Auftakt von Leto
Leto eröffnet mit der Totale eines Hinterhofs. Hohe Backsteinwände, Regenrohre, Metalltreppe. Schwarzweiß.
Drei junge Frauen in Shirts und Hosen steigen die Treppe hoch und stellen auf einem Zwischendach eine Holzleiter an die Mauer. Damit docken sie am nächstbesten Fenstersims an.
Leningrad, Anfang der 80er Jahre, liest man am unteren Bildrand in schön geschwungener, kyrillischer Handschrift. Visuell sehr ästhetisch, dieser Auftakt.
Über die Leiter gelangen die Frauen auf eine Herrentoilette. Es folgt ein Oneshot durch den Backstage-Bereich eines Rockclubs. Die Frauen sind prompt auf der Flucht vor grimmigen Sicherheitsleuten – werden aber gedeckt von ein paar zotteligen Rockmusikern.
Wir folgen den Frauen bis zur Bühne, auf der Mike Naumenko als Frontmann der Band Zoopark singt.
Du zerschlägst alle meine Teller / Und machst anderen heimlich schöne Augen / Du bist ein Miststück!
Das Publikum sitzt in streng geordneten Stuhlreihen steif beieinander. Manch eine wippt mit Fuß oder Fingerspitze – ein seltsamer Anblick kollektiver Zurückhaltung bei einem Rockkonzert.
Schnell wird klar, dass Krawall und Remmidemmi hier verboten ist. An den Flanken des Saals stehen Beamte und passen auf, dass sich die jungen Leute gemäß der sowjetischen Sitten betragen.
So setzt der Auftakt der Films den Ton für das folgende Biopic: Rock’n’Roll in Zeiten der Repression.
Voller Ruhe und Respekt
In der zweiten Szene erleben wir, wie dieselben jungen Leute sich »in freier Wildbahn« verhalten – an einem Strand, fernab der Stadt.
Schon in dieser Strandszene sehen wir nahe dem Musiker Mike eine Natalia, deren Ausstrahlungskraft den Anschein macht, als sei sie des Frauenschwarms Muse und über all die anderen Fans erhaben.
In einem Interview wurde Natalia eben diese Frage gestellt, ob sie Mikes Muse gewesen sei?
Nein. Seine besten Lieder über Frauen schrieb er vor meinem Eintritt in Mikes Leben. Sweet N ist eine Art Sammelbild über ein Ideal, über ewige Weiblichkeit…
Natürlich verstand ich das Prinzip vom »lyrischen Ich«, trotzdem empfand ich es als etwas beleidigend, Songs wie […] Lied eines gewöhnlichen Menschen – was, wenn Andere denken, dass Mike Mitleid mit mir habe?
Mike lächelte darüber bloß und versprach, auf Konzerten anzukündigen, dass die Lieder nicht von seiner Frau handelten, dass seine Frau ganz anders sei.
Natalia Naumenko im Interview (Quelle)
Was im Film Leto sehr gut funktioniert, ist das Gleichgewicht zwischen den Hauptfiguren. Offiziell ein Biopic über Tsois Jugendjahre, stehen Natalia und Mike, in deren Leben Viktor eintritt, ebenso im Fokus.
Dabei wird das Thema Eifersucht angenehm anders behandelt, als in so vielen zotigen »Dreieckskisten«, voller Ruhe und Respekt.
Leto erzählt von einer scheinbar gefestigten Ehe, einer Sandkasten-Liebe zwischen Erwachsenen und einer künstlerischen Verbindung zwischen zwei Musikern – mit gelungenen Übergängen in Ton und Tempo.
Händchen-Halten ist am aller gefährlichsten. – Mike
Abwechslungsreich inszeniert
Stilistisch steckt dieser Schwarzweiß-Film voller Abwechslung. Immer wieder brechen Farbe oder Song-Einlagen in die Handlung ein und bringen Schwung in eine Geschichte, die sich öfter mal in familiäre Momente und zärtliche Zweisamkeit zurückzieht.
Dabei stechen extrovertierte, stark gespielte Randfiguren hervor. Besonders Alexander Gorchilin als Punk und Aleksandr Kuznetsov als Skeptiker, der hin und wieder durch die vierte Wand direkt zum Publikum spricht, haben tolle Augenblicke.
Besagte Song-Einlagen sind als regelrechte Musikvideos inszeniert, etwa zu US-Songs wie Iggy Pops Passenger – mit schicken Animationen und insgesamt sehr stimmungsvoll in Szene gesetzt.
Rückblickend, nach über zwei Stunden Biopic, hat man ehrlich gesagt kaum das Gefühl, einen Film über Viktor Tsoi gesehen zu haben. Vielmehr ein Film, den Viktor Tsoi mit inspiriert hat.
Der Musiker Viktor Tsoi war übrigens auch als Schauspieler aktiv. Man kann ihn in der Hauptrolle zu The Needle (1988) sehen. Als er 1990 bei einem Autounfall starb, hieß es in einem Nachruf zu ihm:
Tsoi bedeutet für die jungen Leute unserer Nation mehr, als irgendwelche Politiker, Prominente oder Schriftsteller. Das liegt daran, dass Tsoi nie gelogen hat – und sich nie verkaufte.
Er blieb immer er selbst und wird es stets bleiben. […] Tsoi ist der letzte Held der Rockmusik. (Quelle)
In Abwesenheit des Regisseurs Kirill Serebrennikow wurde der Film Leto auf den Filmfestspielen von Cannes mit Standing Ovations geehrt – fünf Minuten lang, hier zu sehen:
Fazit zu Leto
Nicht nur für Fans des Musikfilm-Genres ist Leto ein sehenswertes Werk. Der Film ginge auch ohne die Musik ans Herz. Denn die besten Szenen (zwischen den gewiss tollen Songs) sind die vielen Momente der Zwei- und Dreisamkeit.
Die Proteste der Gegner dieses Films wecken (womöglich berechtigte) Zweifel an der Wirklichkeitsnähe von Leto.
Kirill Serebrennikow wird vorgeworfen, er habe keine Ahnung von der Subkultur, die er da zum Leben zu erwecken versuche. Mag sein. Doch was tut’s zur Sache?
Man sollte Leto weniger als Verfilmung einer bestimmten Biografie sehen, sondern vielmehr als Appell an die Freiheit. Und das gelingt auf ganzer Linie: Leto feiert die Freiheit auf eine Weise, die ans Herz geht und mehr als nur zum Mitwippen anregt. Erst recht in Zeiten, in denen die Freiheit nicht nur eingeschränkt, sondern brachial angegriffen wird.