Wer sind wir?

Du fragst dich: Wer bin ich? Fragst vielleicht auch: Wer sind wir? Hier findest du rund ums Thema »Ich und Wir« persönliche Gedanken eines Philosophie-Studenten – zum Weiterdenken.

Die Fragen, wer ich bin und wer wir sind, führen in den Bereich der Philosophie. Denn es gibt keine letztgültigen Antworten auf diese Fragen. Allgemein gilt, dass Konflikte zwischen dem Ich und dem Wir vielen großen Streitthemen des Lebens zugrunde liegen.

Im Folgenden werde ich die Komplexität dieser Konflikte ein wenig ergründen. Ich will ein Bild davon malen, wie sehr das Ich und das Wir miteinander verstrickt sind. Oder, weil ich so gut im Malen nicht bin, will ich vielmehr ein Bild zeigen, dass es gut veranschaulicht.

Fündig geworden bin ich an einem unerwarteten Ort 📖 – in einem Jugendbuch mit dem schönen Titel: Aristoteles und Dante entdecken die Geheimnisse des Universums (hier erhältlich).

Aristoteles und Dante · Zusammenfassung

Das Jugendbuch Aristoteles und Dante spielt im Sommer 1986, irgendwo in Amerika. Es handelt von zwei Jugendlichen, die sich im Laufe dieses Sommers fragen, ob das zwischen ihnen noch Freundschaft sei oder schon Liebe ist. Autor der Geschichte ist Benjamin Alire Sáenz.

Zusammenfassen lässt sich das Gefühl, das dieses Buch hinterlässt, wohl mit einer Mischung aus Sehnsucht und Weltschmerz. Das kommt in genau dem Zitat, um das es mir geht, ganz gut zur Geltung. Und zwar schreibt Dante in einem von vielen Briefen an Aristoteles folgendes:

Es gibt ein berühmtes Bild, Nachtschwärmer von Edward Hopper. Ich bin vernarrt in dieses Bild. Manchmal denke ich, alle sind wie die Menschen in diesem Bild, verloren in ihrer eigenen Welt aus Schmerz, Kummer oder Schuld, unnahbar und unergründlich. […]

Sicher kennst du dieses Bild von den paar Leuten, die bei Nacht in einem hell beleuchteten Bistro sitzen. Schon das ist ein schönes Bild zum Thema »Ich und Wir«, eigentlich. Mit dieser Art gemeinsamer Einsamkeit, die es zeigt…

Aber Nachtschwärmer ist nicht mein Lieblingsbild. Bei Weitem nicht. Hab ich dir mal gesagt, welches mein Lieblingsbild ist? Das Floß der Medusa von Théodore Géricault. Das Bild beruht auf einer wahren Geschichte […]

Auch dieses Bild kennst du vielleicht.

Das Floss der Medusa

Das Floß der Medusa · Geschichte

Die Geschichte hinter dem Gemälde Das Floß der Medusa hat sich 1816 ereignet. Es geht um einen Schiffbruch vor der Küste Westafrikas, der zahlreichen Menschen das Leben kostete. Die Verantwortlichen hatten sich in den wie immer zu wenigen Beibooten davon gemacht.

Nicht nur das: Sie schnitten wortwörtlich das Seil ab, dass sie mit einem aus dem Material des verunglückten Schiffes notdürftig zusammengebauten Floß verbunden hatte. Auf diesem Floß versuchten 146 Männer und eine Frau zu überleben.

Nach einigen Tagen auf hoher See konnten nur noch 15 Männer von dem Floß gerettet werden.

Das Gemälde zeigt eine Szene, die es so nicht gegeben hat – unter anderem, weil in Wirklichkeit schöneres Wetter war. Doch der düstere Himmel unterstreicht die Verzweiflung der Menschen, die ein Schiff in der Ferne auf sich aufmerksam zu machen versuchen.

Es ist ein Hoffnungspunkt am Horizont, kaum zu erkennen, während links und rechts die Wellen immer höher tosen.

Überlebt haben die Katastrophe genug Menschen, um den grauenhaften Vorfall durch deren Berichte weithin bekannt zu machen. Entsprechend viel Aufsehen erregte damals dann auch dieses Gemälde.

Das Floß der Medusa ist zwei Jahre nach dem Schiffbruch entstanden, und 30 Jahre, ehe Frankreich in seinen Kolonien die Sklaverei verboten hat. Das Aufsehen um das Gemälde rührte auch daher, dass ein Schwarzer Mann als Held der Szene erscheint, gemalt als Abbild des Überlebenden Jean-Charles.

Der kunsthistorische Teil dieses Beitrags ist hiermit schon weitgehend beendet.

Und es geht mir im Folgenden auch nicht darum, von einem philosophischen Konzept überzeugen, wie ich es etwa in meinem Beitrag über Nachhaltigkeit versuchte habe. Stattdessen möchte ich zu einer Gedankenreise einladen, um die Dimensionen dieser Fragen auszuleuchten: Wer bin ich? Wer sind wir?

Wer bin ich und wer sind wir?

Die Erfahrung, dass es zwischen dem Ich und dem Wir zu Konflikten kommt, die macht wohl jeder Mensch so früh, dass es noch im Unbewussten stattfindet. In jener Phase, die Sigmund Freud von der infantilen Amnesie betroffen sah. 🧒

Will sagen: Wir vergessen unsere erste Erfahrung vom hochkomplexen Interessenkonflikt zwischen dem Ich und dem Wir. Doch wie der Zufall so will, durfte ich vor kurzem Zeuge sein, wie ein Kind diese Erfahrung erstmals machte.

Das ist natürlich nur meine vielleicht etwas bemühte Interpretation einer kindlichen Erfahrung, über die das Kind selbst noch gar nicht sprechen kann. Sei’s drum!

Um dieses Beitrags Thema willen werde ich meine Interpretation als Tatsache hinstellen: Das Kind hat also erstmals jenen Konflikt zwischen »Ich« und »Wir« erlebt und über diese Frage sinniert: Wer sind wir?

Ja, so war das. Bei dem Kind handelt es sich um mein eigenes.

Es mag seltsam wirken, dass ich es nur »das Kind« nenne. Als hätte ich keine persönlichere Beziehung zu diesem Kind. Da es aber noch so jung ist, dass ich nicht fragen konnte, ob ich es hier zur Hauptfigur machen darf, dachte ich: tut ja auch nichts zur Sache…

Tipp: Hier ein paar Gedanken zu den Fragen: Warum Vater werden? – und: Wie kann ich ein guter Vater sein?

Das Kind hat die Erfahrung, von der ich hier berichten will, jedenfalls im Alter von 18 Monaten gemacht. Was ist passiert? Eine Lappalie, eigentlich, schnell erzählt.

Von kleinem und großem Unglück

Es war einmal… eine winzige Verschiebung im Raum-Zeit-Gefüge. Eine Tasse Tee, die vom Nachttisch geschnappt wird. Ein paar Schluck Wasser, die sich über das Ärmchen des Kindes ergießen, das nach der Tasse griff. 🍵

Nichts im Vergleich zum Schiffbruch einer französischen Fregatte, dem grausamen Nachspiel und dessen gesellschaftlicher Wirkung. Nicht annähernd so politisch brisant.

Doch weil es kochend heißes Wasser war, trotzdem ein kleines Unglück.

Ich weiß gar nicht mehr, womit ich beschäftigt war, an diesem Tag. Nur, dass ich beschäftigt war, in meinem Studio, mit meinem Kram, mich aber plötzlich aus allem rausgerissen fand.

Nur 20 Minuten nach dem Vorfall standen wir in der Notfall-Ambulanz der Kinderstation und ein Arzt sprach von stationärer Aufnahme. Ok.

Weil meine Frau sich um unser zweites, gerade erst wenige Tage altes Kind kümmern musste, blieb ich mit unserem erstgeborenen Kind im Krankenhaus.

Aus einer Nacht wurde eine Woche, dann zwei Wochen. Für mich war es eine Vollbremsung im ach so geschäftigen Alltag.

Natürlich hatte ich Mitleid mit dem armen Kind. Aber ich war auch verärgert, dass ein so kurzer Moment der Unachtsamkeit mich dermaßen aus dem Flow geworfen hat.

Meine Arbeit an neuen Kursen und Videos, meine kreativen Projekte, mein geliebtes wuseliges Treiben wurde abrupt ersetzt durch Anschaukeln, Bespaßen, zum Verbandswechsel Begleiten, anschließend Trösten.

Doch in dieser Zeit des scheinbaren Stillstands begann sich etwas zu verändern. Für das Kind, für mich und für uns. Wir waren auf eine Weise auf uns allein gestellt, die wir so noch nicht kannten.

Das Kind ohne die Mutter, die es sonst ständig umgeben hatte. Und ich ohne meine Arbeit, die sonst ständig mein Denken einnimmt – und natürlich ohne meine Frau. Deren Arbeit in Elternzeit habe ich jetzt erst richtig zu schätzen gelernt.

(Und ja, mir ist bewusst wie unzeitgemäß traditionell geregelt unsere Aufgabenteilung hier anmuten muss…)

Wir als Zivilisation

Als das Floß der Medusa los geschnitten wurde, da war die Lage für die nun auf sich allein Gestellten natürlich ungleich dramatischer. Ein Gouverneur namens Schmaltz hatte befohlen, das letzte Seil zu kappen, mit welchem das Floß hinter den Beibooten hergezogen worden war.

»Wir lassen sie zurück!«, soll dann der Erste Offizier gerufen haben. Das aus ursprünglich 400 Besatzungsmitgliedern bestehende Wir war im Zuge des Schiffbruchs in einige kleinere Wir-Verbünde zerbrochen.

»Wir« in den Beibooten – und »Wir« auf dem Floß. Bloß, dass Letzteren nun ein schreckliches Schicksal gewiss war.

Es gab viel zu wenig Proviant. Das Wasser stand ihnen hüfthoch. Der Tod war nicht nur sicher, sondern schien wie das kleinere Übel. Und je weniger der dicht gedrängten Körper sich auf dem Floß hielten, desto mehr erhob es sich aus dem Wasser – desto besser für die Übrigen.

Was macht das mit einem Wir? In den folgenden Tagen und vor allem Nächten zerschellten auf diesem Floß »die Ideale der Zivilisation«, wie der Kunsthistoriker Jörg Trempler es mal formuliert hat.

Wir, die wir im Krankenhaus gestrandet waren, erlebten wiederum gerade einige Ideale unserer Zivilisation.

Wildfremde Menschen kümmerten sich um mein Kind, als sei es ihr eigenes. Wissenschaftlicher Fortschritt in Form von Erfahrung und Equipment wurde angewandt, um Schmerzen zu lindern und die Wunde zu heilen. Eine Verbrühung zweiten Grades, Typ b – für die medizinischen Fachleute unter den Mitlesenden. 🧑🏼‍⚕️

Das Kind selbst wusste nicht, wie ihm geschah und was all das zu bedeuten hatte. Links ein Verband, rechts ein Zugang in der Hand und im Kopf sicher tausend Fragen, von denen es keine aussprechen konnte.

Ich nehme an, mein Kind ging davon aus, dass das jetzt unser neues Zuhause sei – diese Krankenstation; und dies unser neuer Alltag, das langweilige Pendeln zwischen Innenhof und Spielzimmer, zwischen Bett und Behandlungsraum.

Wir als Organismus

In den ersten Nächten fieberte das Kind. Wenn das Ich sich in den Schlaf verabschiedet hatte, fing das Wir, das ein jeder Organismus bildet, erst an, in dem kleinen Körper seine Konflikte auszutragen.

Ich saß daneben, maß das Fieber, dachte an die Zeichentrickserie Es war einmal… das Leben und hielt stundenlang Händchen.

Und bei all dem bemitleidete ich mich selbst. Dass ich hier zum Rumsitzen verurteilt war; dass ich jetzt um so viele Tage zurückgeworfen würde, in meinen Zeitplänen; und dass ich weder schlafen noch arbeiten konnte, noch wenigstens über was anders Nachdenken als eben dieses unnütze Selbstmitleid. Ich, ich, ich.

Und ich nehme an, das Kind bemerkte meine Genervtheit zuweilen. Es begann in diesen Krankenhaustagen immer öfter damit, sich selbst zu beschäftigen. Saß minutenlang auf der Spieldecke und baute ein Holzpuzzle zusammen, ehe es wieder die übliche, volle Aufmerksamkeit einforderte.

Das Kind schien jedenfalls mehr und mehr wahrzunehmen, dass die Ansprüche des eigenen Ich hin und wieder in Konflikt gerieten mit diesem anderen Ich, dass da im Papa wohnte. Und dass dieser Konflikt irgendwie mit diesem ständigen, notwendigen Wir zusammenhing.

Zumindest las ich das hinein in den manchmal nachdenklichen Blick des Kindes.

Die Dimensionen des Wirs

Bis hierher haben wir nur zwei Dimensionen der Ich-Wir-Thematik angekratzt. 🎲

Zum einen Wir als Zivilisation, die sich Fortschritt und Schutz beschert, vor den Gefahren des Lebens und voreinander.

Auf dem Floß der Medusa war dieses Wir im Angesicht des Todes aufgesprengt worden, in viele verzweifelte Ichs, die ums nackte Überleben kämpften – die zwar Allianzen bilden, doch nur mit Blick aufs eigene Wohl.

Gerade in den Nächten regierte das Recht der Stärkeren. Schwache wurden gepackt und ins Meer geworfen. Oder auf dem Floß ermordet, zum Teil verspeist. Der Weg zum Überleben war mit Gräueltaten gepflastert. Wem es gelang, war diese neue, nie wieder abzustreifende Identität eingebrannt: Mörder.

Und ich habe das Wir als Organismus angesprochen. Wo auch immer dieses Ich wohnt, als das sich ein jeder Mensch empfindet, oder ob es bloß ein emergentes Blitzen im Neuronengewitter ist: Als Körper sind wir auf das harmonische Miteinander unserer Zellen angewiesen. Auf ein funktionierendes Immunsystem, das innere Konflikte findet und lindert.

Bei meinem Kind funktionierte es gut. Nach ein paar schlimmen ersten Tagen staunte ich bald bei jedem Verbandswechsel über die Macht des menschlichen Körpers, sich selbst zu reparieren.

Bei einer Handvoll Überlebender der Medusa funktionierte es nicht. Der Schaden war zu groß. Sie starben wenige Tage nach ihrer Rettung an den Folgen der Strapazen. Darunter auch jener Afrikaner Jean-Charles, dem Held des Gemäldes Das Floß der Medusa.

Das Wir als Organismus ist wohlgemerkt nicht nur auf das innere Immunsystem angewiesen, sondern auch auf das äußere Ökosystem, das unser Leben überhaupt erst ermöglicht. In dieser Dimension betrachtet stehen wir streng genommen mit allen anderen Lebewesen, jeder Zelle und jedem Partikel unserer Umwelt in Verbindung.

Mit einem Schlag · Jill Bolte Tayler

Das ist die Art von Wir, den die Hirnforscherin Jill Bolte Taylor in ihrem TED-Talk My Stroke of Insight (»Mit einem Schlag«) beschreibt. Das ist übrigens der wohl beste Beitrag zur Ich-Wir-Thematik. Taylor hat selbst einen Schlaganfall in der linken Großhirnrinde erlitten – für eine Hirnforscherin wie sie ein offenbar sehr ambivalentes Ereignis.

Taylor erlebte, wie sich ihre linke Gehirnhälfte, in der sozusagen das Ich wohnt, abschaltete. 🧠 Diese Gehirnhälfte ist dafür zuständig, unsere Wahrnehmungen überhaupt erst zu sortieren und für uns in eine gewisse Ordnung zu bringen – mal sehr laienhaft wiedergegeben.

Stattdessen war sie plötzlich allein auf ihre rechte Gehirnhälfte angewiesen, die nichts sortiert, sondern nur wahrnimmt. Die kein Ich kennt, sondern nur ein Wir spürt. Ja, die gar nicht merkt, wo der eigene Körper aufhört, und die Außenwelt beginnt. Ich empfehle diesen TED-Talk sehr, hier ist er mit deutschen Untertiteln zu sehen:

Allein Taylors Ratschlag, dass wir alle mal etwas mehr auf unsere rechte Gehirnhälfte hören sollten, ist leider schwierig umzusetzen.

Dies umfasst also die zweite Dimension – oder eine weitere Dimension. Es geht mir nicht um eine Rangfolge. Die eine Dimension ist das organisatorische Wir zwischen vergesellschafteten Subjekten. Die andere Dimension ist das organische Wir nach Innen und Außen, das den Subjekten überhaupt erst einen Lebensraum bietet.

Wir als Menschheit

Eine weitere Dimension der Ich-Wir-Thematik offenbarte sich mir im Park des Krankenhauses. Jeden Tag drehten wir dort unsere Runden um einen Teich voller Enten und Karpfen.

Kind am Teich

An einer Stelle stand ein Strauch, an dem gebastelte Schmetterlinge hingen. Manche vom Wetter etwas mitgenommen. Manche noch ganz neu und bunt.

Mein Kind war wie magisch angezogen von diesem Strauch, sah die Schmetterlinge gerne an, spielte mit ihnen. Bis ich das Kind davon abhielt und sagte, es solle die Schmetterlinge in Ruhe lassen, bitte. Denn neben dem Strauch stand ein Gedenkstein.

Jeder der Schmetterlinge hing dort für ein Kind, dass in diesem Krankenhaus zur Welt gekommen war, ohne je deren Licht zu erblicken. Das diese Welt wieder verlassen hatte, ehe es erste Spuren hinterlassen konnte. Scheinbar, denn da hingen ja diese Schmetterlinge.

Ich musste an die Duineser Elegien von Rainer Maria Rilke denken.

Denn eine Stunde war jeder, vielleicht nicht ganz eine Stunde, ein mit den Maßen der Zeit kaum Meßliches zwischen zwei Weilen –, da sie ein Dasein hatte. Alles. Die Adern voll Dasein.

Ich nahm mein Kind bei der Hand, beim Händchen. Wir gingen weiter.

Die dritte Dimension des Ich-Wir-Konflikts, das ist die stillste und unscheinbarste. Sie umfasst das Wir all derjenigen, die vor uns waren, die von uns gingen – und die uns überleben, die nach uns kommen.

Es ist das Wir der Vorfahren, unserer Verstorbenen, deren Leben oder auch viel zu kurzes Da-Gewesen-Sein in uns nachwirkt; und das Wir der folgenden Generationen. Auch mit diesem Wir stehe ich als Individuum in Verbindung, vielleicht in Konflikt.

Hiersein ist herrlich

Ok, ich gebe es zu: Vielleicht handelte dieser kurze Gedankengang weniger von irgendeiner Erkenntnis meines Kindes als vielmehr meinen eigenen Einsichten zu den Fragen: Wer bin ich? Und wer sind wir?

Wie ich jedenfalls so die kleine, warme, etwas klebrige Hand meines Kindes hielt, nachdem wir uns vom Schmetterlingsstrauch abgewandt hatten, da wurden die »Ich, ich, ich«-Klagen in meinem eigenen Kindskopf etwas leiser. Was war ich für ein törichter, undankbarer Dummie, dass ich diese gemeinsame Zeit mit meinem Kind nicht viel mehr zu schätzen wusste. Hiersein ist herrlich.

Um das Händchen-Halten geht es auch in jenem Jugendbuch, das ich eingangs erwähnt hatte, wenn der junge Aristoteles grübelt:

Ich hätte gern gewusst, wie es ist, jemandem die Hand zu halten. Ich konnte mir vorstellen, dass man manchmal alle Geheimnisse des Universums in der Hand eines anderen entdecken konnte.

Es ist so eine einfache Geste.

Nicht das Händeschütteln, das uns Corona ja ohnehin ausgetrieben hat. Aber das Halten einer Hand, das Sich-Verbinden mit einem anderen Menschen. Eine Geste, exklusiv fürs Hier und Jetzt.

Den Vorfahren und Verstorbenen kann ich die Hand nicht halten. Deshalb ist diese Dimension des Wir vielleicht so schwer greifbar.

Um uns mit all denen verbunden zu fühlen, die wir nicht kennen, nicht sehen, deren Erfahrungswelt uns verschlossen bleibt, sei es nun, weil wir zeitlich oder weil wir räumlich voneinander getrennt sind – um uns mit diesen Menschen verbunden zu fühlen, kann Kulturgut hilfreich sein. Bücher, Gedichte, Gemälde.

Solches Kulturgut schult unsere Vorstellungskraft, bestenfalls unsere Empathie für all jene, denen wir nicht einfach die Hand reichen können. Das ist wichtig. Gerade in einer globalisierten Welt wie der unseren. 🌏

Ob wir es wissen oder nicht, ob wir es wollen oder nicht, wir stehen mit allem und allen in Verbindung.

Das Floß der Medusa als Metapher

Wenn wir genau hinschauen, dann entdecken wir auf dem Floß der Medusa übrigens, dass auch dieser Mensch an der Spitze der hoffenden Meute, dieser Jean-Charles nachempfundene Mann, einem anderen Mann auf dem Floß die Hand hält. Hier liegt diese unscheinbare Geste im Schatten des Geschehens verborgen.

Damals prangerte dieses Gemälde, Das Floß der Medusa, abermals den ohnehin schon international bekannten Skandal an, den jene noch nicht lang vergangenen Geschehnisse darstellten. Höchst unangenehm für die französische Monarchie. Eine zentrale Rolle spielte dabei der verantwortliche Kapitän, der seinen Posten nicht aufgrund seiner Kompetenz, sondern seiner Königstreue innehatte.

Tipp! Über Das Floß der Medusa sprechen wir auch (kurz) im Podcast. Wer sind wir? Mein Co-Host ist Autor und Musiker Benny Reuse. Hier die entsprechende Episode:

Heute fällt es nicht schwer in dem Gemälde eine Metapher für die Klimakatastrophe zu sehen, oder die Flüchtlingskrisen der letzten Jahre. In diesem Kontext hat das britische Streetart-Phantom Banksy Das Floß der Medusa in ein Graffiti mit aufgenommen.

2015 war das. In jenem Jahr, als Angela Merkel ihr berühmtes »Wir schaffen das!« aussprach. Doch die politischen Aspekte der Ich-Wir-Thematik will ich gar nicht selbst erörtern – sondern allenfalls im Kommentarbereich unten. 💬

Wer bin ich? Wer sind wir? · Ubuntu-Philosophie

Meine Aufgabe habe ich darin gesehen, ein paar Anregungen zu geben, wie komplex Antworten auf die Frage »Wer sind wir?« ausfallen können – und wie eng die Frage »Wer bin ich?« mit diesen Antworten im Zusammenhang steht.

Ich fasse zusammen: Zwischen Ich und Wir existiert ein Interessenkonflikt. Aber es ist ein lebensnotwendiger, ohne den es gar nicht geht. Ein Konflikt, der furchtbar und fruchtbar sein kann. Ich bin weil wir sind, wie es in der afrikanischen Ubuntu-Philosophie heißt.

Ich bin also Teil des großen Ganzen, Teil des Wir im Hier und Jetzt. Vielleicht ist es an der Zeit, das eigene Ich zurückzunehmen und mehr Gespür für das globale und das überzeitliche Wir zu entwickeln. Aber vielleicht schließe ich dabei auch nur von mir auf andere…

Danke fürs Lesen. Feedback und Fragen wie immer in die Kommentare – und gerne auch Antworten: Was hat dich hierher verschlagen? Was sind deine Gedanken zum Thema, deine Antworten auf die Ausgangsfragen: Wer bist du? Und wer sind wir?

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