Die Reise des Odysseus

In diesem Beitrag geht es um den Dichter Homer, seinen Helden Odysseus und dessen legendäre Reise. Damit widmen wir uns, nach dem »Bauerndichter« Hesiod, nun dem wohl größten Meister seines Fachs. Der Einfluss von Homers Werken – von der Antike bis heute – ist kaum zu überschätzen. Der Dichter und seine Kunst sind ein Forschungsfeld für sich. Hier soll der Fokus auf dem Motiv der Heldenreise liegen, für das die Odyssee ein frühes und fantastisches Beispiel liefert.

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Das Werk eines Künstlers

Mit Homer habe das »Genie der Griechen gleich am Anfang ihrer Geschichte seinen höchsten Gipfel« erreicht, schreibt der Kulturphilosoph Egon Friedell.1 Aus dessen Feder stammen die Nachworte zu den hier zugrunde liegenden Ausgaben der Ilias und der Odyssee, den beiden monumentalen Meisterwerken, die Homer zugeschrieben werden (siehe: Literaturverzeichnis). Jedes davon ist ein Epos, das je 24 Bücher (Ilias) respektive 24 Gesänge (Odyssee) umfasst. Zusammengenommen bilden diese Werke geradezu zwei Teile einer großen Komposition. Der erste Teil handelt von einer zehnjährigen Belagerung, der zweite von einer ebenso langen Irrfahrt. Beide Zeiträume »derart dramatisch zu komprimieren und um [je] einen Mittelpunkt zu gruppieren«, bemerkt Friedell2 und meint damit einmal den Zorn des Achilles und einmal die Erzählung des Odysseus, das könne nur »von einem großen Künstler, ja Artisten stammen.«

Ob nun Homer wirklich als Autor der Ilias und der Odyssee gelten kann (Gegenstand der sogenannten »Homerischen Frage«), das soll hier nicht erörtert werden. Um Homer, der rund ums Jahr 800 vor unserer Zeitrechnung lebte, ranken sich kaum weniger Legenden, als um die Figuren in seinen Geschichten. Nicht einmal besagte Jahreszahl (800) gilt als gesichert. Woher stammt Homer? Wann starb er? War der Dichter womöglich blind? Alles Fragen, auf die wir keine zweifelsfreien Antworten haben – egal. Wir ergründen hier auch nicht, ob der Trojanische Krieg tatsächlich stattgefunden hat (das Thema der »Troja-Debatte«).

Fakt ist, dass es zwei gewaltige Epen gibt, die wie aus einer Hand geschrieben sind. Sie erzählen von mythischen Figuren, von Gottheiten und fabelhaften Kreaturen, aber ebenso vom Menschen, dessen Wesen und Abgründen. Was können wir aus diesen Werken lernen?

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Die Ilias

Der Raub der Helena

Auf nach Troja, dem Schauplatz jenes Krieges, der in Homers Werk eine so zentrale Stellung spielt. Angefangen hat es mit der (einvernehmlichen) Entführung von Helena. Dieser sagenhaft schönen Frau wird in der Ilias die Rolle eines Preises zuteil, oder vielmehr: einer bitterlich begehrten Beute. Erst gehörte sie dem Sparta-König Menelaos, bis der Troja-Prinz Paris sie ihm wegnahm.

Dieser Raub der Helena war, der Legende nach, der Auslöser für den Krieg, im Rahmen dessen Troja von den Griechen erobert werden sollte. Doch die uneinnehmbar hohen Stadtmauern machen das Unterfangen fast unmöglich. Der Krieg währt bereits seit neun Jahren, als die Handlung der Ilias von Homer beginnt. Die Hauptrolle spielt darin der so gerühmte wie gefürchtete Kämpfer Achilles.

Die Ilias als Film & Serie

Tipp 1: Die Ilias diente als Inspiration für den Film Troja(2004), der dramaturgisch bedingt vom Original abweicht und das ganze Epos fürs Spielfilmformat (immerhin mit Überlänge) komprimiert.

Das Drehbuch schrieb David Benioff (Game of Thrones). Helena wird von Diane Krüger verkörpert, Achilles von Brad Pitt und König Agamemnon, brutaler Anführer der griechischen Armee, von Brian Cox. Die Regie führte Wolfgang Petersen (Das Boot), der trotz aller Abweichungen den Urheber der Ilias in höchsten Ehren hält.

Wenn es so etwas wie einen Baum des Erzählens gibt, an dem jedes Buch, jeder Film ein winziges Blatt ist, dann ist Homer der Stamm. Aber nicht nur das. Schauen Sie sich die Gegenwart an! Was die »Ilias« über Menschen und Kriege sagt, ist einfach immer noch wahr. Die machthungrigen Agamemnons, die eine neue Weltordnung schaffen wollen, egal um welchen Preis – das hat absolute Aktualität.

Wolfgang Petersen im Interview (SZ)

Tipp 2: Weniger opulent und starbesetzt, dafür bemerkenswert nah an der Homerischen Vorlage ist die sehenswerte Miniserie Troja – Untergang einer Stadt (2018).Wer sich an Homers Schriften nicht herantraut, bekommt darin eine detailverliebte Version der griechischen Mythen überliefert. In der Miniserie wird auch deutlich, welch zentrale Bedeutung Odysseus im Trojanischen Krieg zufällt.

Die Odyssee

Die List des Odysseus

Der größte Streich der Griechen, der kommt in der Ilias gar nicht mehr vor. Gemeint ist das berüchtigte Trojanische Pferd, das die Trojaner am Strand vorfinden, nachdem die Griechen nach Jahren der Belagerung endlich abgehauen sind – so scheint es. Wie eine Trophäe schaffen die Trojaner das gewaltige Holzpferd in ihre Stadt, nur um nachts von den darin versteckten Griechen überfallen zu werden… »In dem gezimmerten Rosse, worin wir Fürsten der Griechen / Alle saßen, und Tod und Verderben gen Ilion brachten.«3 Ilion ist ein anderer Name für Troja, von dem sich auch der Titel der Ilias ableitet. Die List vom Pferd, die wird meist – so in den genannten Verfilmungen und auch bei Homer – niemand anderem als Odysseus zugeschrieben.

Fahre nun fort, und singe des hölzernen Rosses Erfindung, / Welches […] zum Betrug in die Burg einführte der edle Odysseus.

Odyssee, achter Gesang (Übersetzung von Voß)

Die Fahrt des Odysseus

Damit kommen wir zu Homers berühmtesten Protagonisten, Odysseus. Auf dessen Rückreise vom gewonnenen Kriege verschlägt es ihn, gelinde gesagt, auf Abwege. Die Odyssee ist voll von legendären, hochdramatischen Situationen und Stationen, die Geschick und Mut unseres Helden immer wieder aufs Neue herausfordern. Das Epos beginnt mit den folgenden Zeilen:

Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes, / Welcher so weit geirrt, nach der heiligen Troja Zerstörung, / Vieler Menschen Städte gesehn, und Sitte gelernt hat, / Und auf dem Meere so viele unnennbare Leiden erduldet […]

Der grausame Wütrich…

Sei es der Abstecher zu den »gesetzeslosen Zyklopen«, jenen einäugigen, menschenfressenden Riesen. Odysseus versucht einen von ihnen mit kluger Rede zu überzeugen – keine Chance.

Also sprach ich; und nichts versetzte der grausame Wütrich, / Sondern fuhr auf und streckte nach meinen Gefährten die Händ’ aus. / Deren er zween anpackt’ und wie junge Hund’ auf den Boden / Schmetterte: blutig entspritzt’ ihr Gehirn, und netzte den Boden. / Dann zerstückt’ er sie Glied vor Glied und tischte den Schmaus auf, (…)

Odyssee, neunter Gesang

Oder sei es der Aufenthalt bei Kirke, jener »schöngelockten Göttin«, die Odysseus mit ihrem Charme umgarnt (bezirzt) und vorweg seine Männer in Schweine verwandelt und wegsperrt.

Denn sie hatten von Schweinen die Köpfe, Stimmen und Leiber, / Auch die Borsten; allein ihr Verstand blieb völlig wie vormals. / Weinend ließen sie sich einsperren; da schüttete Kirke / Ihnen Eicheln und Buchenmast und rote Kornellen / Vor, das gewöhnliche Futter der erdaufwühlenden Schweine.

Odyssee, zehnter Gesang

Die Schilderung der Irrfahrten des Odysseus, vom Helden selbst erzählt, erstrecken sich vom neunten bis zum zwölften Gesang. Sie bilden den epischen Kern der Odyssee und wurden wohl kaum von Homer ersonnen, sondern schon lange vor ihm (vor allem mündlich) als Erzählungen überliefert. Doch in der Odyssee sind die althergebrachten Mythen so einzigartig dramatisch verflochten worden, dass ihr Titel zum Synonym dessen geworden ist, was dem Epos zugrunde liegt – das Motiv der Held*innenreise, auch »Monomythos« genannt.4

Tipp: Hier ein Video-Beitrag über Mythologie, unter anderem bei Hesiod, Homer und Sappho.

Hero’s Journey 101

Von Gilgamesch bis Luke Skywalker, von Odysseus bis Jane Eyre, Held*innen treten eine Reise an, verwandeln sich in eine neue, bessere Version ihrer selbst und motivieren im Zuge dessen uns alle, in ihre Fußstapfen zu treten.5

Die Grundgerüste unzähliger Geschichten sind sich verdächtig ähnlich. Egal, in wie viele Akte, Beats oder Stationen wir die Handlung unterteilen mögen, manche Gesetze des Storytellings gehören eingehalten. Dass die Hauptfigur eine Verwandlung durchmacht zum Beispiel.

Ausgangszustand

Es beginnt mit einem mehr oder weniger paradiesischen Ausgangszustand. Frodo (Herr der Ringe), der im Auenland am Baum lehnt und ein Buch liest ist das beste Bild dafür. Doch selbst Katniss Everdeen (Die Tribute von Panem) hat sich mit ihrem Leben im ärmlichsten Distrikt arrangiert und könnte das heimliche Jagen im Wald sicher genießen, wenn es die grausame Tradition der Hungerspiele nicht gäbe. Dass es sie als Tribut in diese Hungerspiele verschlägt, das ist der klassische »Ruf des Abenteuers«, dem mehr oder (meist) weniger freiwillig gefolgt wird. Bei Odysseus, diesem archaischen Helden, sind es eben jene Irrfahrten, die ihm von den Göttern und Göttinnen auferlegt werden.

Abenteuer

Die Abenteuer auf der Heldenreise dienen dazu, dass Odysseus über sich hinauswächst. Sei es, dass er seine vom Lotos vernebelten Gefährten zum Schiff zurückholt und sich dadurch als standhafter Anführer erweist. Aber auch, dass er lernt, sich selbst ganz auf seine Gefährten zu verlassen. Als sie die Sirenen passieren, vor denen Kirke sie gewarnt hatte, da stopfen sich die Gefährten Wachs in die Ohren und fesseln Odysseus auf dessen Befehl hin an den Mast. Er will den Sirenen lauschen und braucht dazu das vollste Vertrauen seiner Mannschaft. Auf dass sie sich ihrem Anführer widersetzen, wenn er plötzlich losgemacht werden wollen würde, um den Sirenen zu verfallen. »Denn es bezaubert ihn der helle Gesang der [Sirenen], / Die auf der Wiese sitzen, von aufgehäuftem Gebeine / Modernder Menschen umringt, und ausgetrockneten Häuten.« (Zwölfter Gesang).

Ankunft

Ob das Erreichen eines fernen Ziels oder die Heimkehr zum Ausgangspunkt: Bei der Ankunft ist die Hauptfigur gestärkt für die finale, große, eigentliche Herausforderung. Odysseus, ehrlich gesagt, erweist sich am Ende seiner Heldenreise als grausamer denn je und schlachtet jede Menge Leute ab – aber na ja, andere Zeiten, andere Sitten. Katniss Everdeen befreit ihren Distrikt von einem Diktator, das klingt doch schon zeitgemäßer. Wir werden diesem Motiv der Irrfahrten noch etliche Male begegnen, sowohl in der Literatur als auch in Filmen und Serien.

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Archetyp vs. Stereotyp

Dabei wollen wir einen Fokus legen auf das, was Robert McKee – Lehrer für kreatives Schreiben und Autor des Klassikers Story – als archetypische Storys beschreibt. Während stereotypische Geschichten in Form und Inhalt begrenzt altbekannte Vorstellungen immer neu aufwärmen, brechen archetypische Geschichten mit den Erwartungen.

»Die archetypische Story«, schreibt McKee, »bringt eine universale menschliche Erfahrung ans Licht und findet dann einen einmaligen, kulturspezifischen Ausdruck. […] Stereotype Storys bleiben zu Hause, archetypische Storys gehen auf die Reise.« Sie führen uns in eine »Welt, die wir nicht kennen. Sei sie vertraut oder episch, zeitgenössisch oder historisch, konkret oder phantastisch, die Welt eines herausragenden [Kunstwerks] berührt uns immer als ein wenig exotisch oder fremd.« Selbst wie Reisende »treten wir mit großen Augen in eine unberührte Gesellschaft, eine klischeefreie Zone, in der das Gewöhnliche zum Außergewöhnlichen wird. […] Sind wir einmal in dieser fremden Welt, entdecken wir uns selbst. Tief im Innern dieser Figuren und ihrer Konflikte erkennen wir unser eigenes Menschsein.«6

Odysseus à la Dante

Was trieb Odysseus dazu, in die Ferne zu schweifen? In seiner Göttlichen Komödie bringt Dante Alighieri den griechischen Helden im achten Höllenkreis unter (vielleicht, weil er am Ende so ein grausamer Mörder war) und lässt Odysseus sagen:

[…] Als damals / ich von [Kirke] schied, die mich über ein Jahr lang an sich gebunden hatte, […] / konnte weder die Zärtlichkeit für den Sohn noch […] die Penelope geschuldete Gattenliebe, die sie glücklich machen sollte, / den Drang besiegen, den ich in mir spürte, die Welt zu erkunden, wie auch die Fehler der Menschen und was sie wert sind.

Göttliche Komödie, sechsundzwanzigster Gesang, 90ff.

Der Menschen Sünden und Wert erforschen, das sei Odysseus’ Antrieb gewesen. Nun, welches Urteil fällt der Held in der Odyssee über sein »Forschungsobjekt Mensch« denn schließlich?

Siehe, kein Wesen ist so eitel und unbeständig / Als der Mensch, von allem, was lebt und webet auf Erden. / Denn so lange die Götter ihm Heil und blühende Jugend / Schenken, trotzt er und wähnt, ihn treffe nimmer ein Unglück. /

Aber züchtigen ihn die seligen Götter mit Trübsal, / Dann erträgt er sein Leiden mit Ungeduld und Verzweiflung. / Denn wie die Tage sich ändern, die Gott vom Himmel uns sendet, / Ändert sich auch das Herz der erdebewohnenden Menschen.

Odyssee, achtzehnter Gesang

Fazit und Ausblick

Was lernen wir daraus? Der Mensch allgemein scheint sich im Laufe der Jahrtausende nicht zu ändern. Immerzu heimgesucht von gleichen Emotionen (ob Hoffnung, Liebe, Neugier, Rachsucht) strebt er den immerzu gleichen Zielen entgegen (Erkenntnis, Glück, Ruhm, Reichtum). Weil das so ist, können wir die Hohepriesterin Enheduanna oder den Helden Odysseus verstehen, ihre Gefühle und Handlungen nachvollziehen. Doch der Mensch als Individuum scheint sich im Laufe des Lebens durchaus zu ändern. Wir sind mal von diesen, mal von jenen, mal von neuen Emotionen heimgesucht, streben heute nach diesen, morgen nach jenen, bald nach anderen Zielen.

Wenn du hier und jetzt unzufrieden mit dir selbst bist, gib’ dir nur Zeit, geh’ auf Reisen. Dazu musst du nicht in ferne Länder fliegen, Stichwort Kulturreise.

Mit den Erfahrungen und Jahren wirst du schon ein anderer Mensch werden. Wenn du aber zufrieden mit dir bist und stolz auf deine Prinzipien, deine Treue oder Verlässlichkeit, dir selbst und deinen Mitmenschen gegenüber: Bleib’ wachsam, dass mit der Zeit du weiter reifst, ohne von deinem Charakter allzu sehr abzuweichen. Letztendlich sind wir alle auf Irrfahrten, auf unserer eigenen Odyssee durchs Leben.

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Fußnoten

  1. Homer: Ilias, S. 425.
  2. Homer: Odyssee, S. 329.
  3. Homer: Odyssee, S. 47.
  4. Den Begriff »Monomythos« hat der Mythenforscher Joseph Campbell (1904-87), der ausführlich über das Motiv der »Hero’s Journey« schrieb, vom Schriftsteller James Joyce entliehen. Dieser erwähnt den »monomyth« in seinem letzten Werk Finnegans Wake (1939). Mit dem Roman Ulysses (1922) schuf Joyce angelehnt an Homers Werk seine ganz eigene Version der Irrfahrten, in Form von »Irrgängen durch Dublin«, sozusagen.
  5. Vgl. Scott T. Allison, George R. Goethals: Handbook of Heroism and Heroic Leadership, S. 379.
  6. Robert McKee: Story, S. 11f.

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