Dieser Beitrag behandelt die beiden Werke, die von dem griechischen Dichter Hesiod heute noch erhalten sind: die Theogonie über die Entstehung der Welt und der Götter, sowie Werke und Tage, ein Lehrgedicht, das Männern das Pinkeln im Freien beibringt – unter anderem. Außerdem lernen wir, wie bereits bei Hesiod eine beschämende Abscheu vor Frauen ihren frühen Einzug in die Weltliteratur fand. Eine Schlüsselrolle spielt dabei der Mythos um die berüchtigte Büchse der Pandora.
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Hesiod, der Bauerndichter
Vom europäischen Standpunkt betrachtet, stehen am Anfang der Weltliteratur zwei Namen, die schon zu Platons Zeiten berühmt waren: Hesiod und Homer, zwei Dichter, die rund ums Jahr 700 vor unserer Zeitrechnung lebten. Der Grund für ihre Berühmtheit hängt nicht wenig mit den Mythen der alten Griechen zusammen – also den Geschichten ihrer zahlreichen Gottheiten.
Woher aber ein jeder der Götter stammt, ob sie alle schon immer waren und von welcher Gestalt sie sind, wussten sie bis sozusagen vorhin und gestern nicht. Hesiod nämlich und Homer […] [waren es], die den Griechen die Theogonie (Götterentstehung) gemacht, den Göttern die Beinahmen gegeben, ihre Ämter und Fertigkeiten bestimmt und ihre Gestalten angezeigt haben.
Herodot: Historien, S. 159
Diese Zusammenfassung von den Errungenschaften der Dichter stammt von Herodot, dem Urvater aller Geschichtsschreibenden, aus dem 5. Jahrhundert vor Christus (Sohn des einzigen Gottes, an den gemäß der heute am weitesten verbreiteten Religion noch zu glauben sei).
Ein paar Jahrzehnte nach dem Historiker Herodot urteilte der Heerführer und spätere Herrscher Alexander der Große: Homer sei ein Dichter für Könige gewesen, Hesiod hingegen einer für Bauern. Wohlgemerkt: Dieses Urteil fällte Alexander der Große als literarische Figur in einem Werk des Schriftstellers Dion Chrysostomos (siehe: Operatio II, 8). Dinge wie Ehre, Eleganz und Schönheit hätten laut Alexander dem Großen bei Hesiod einen nicht allzu hohen Stellenwert – mehr dazu in Otto Schönbergers Nachwort zu Hesiods Werke und Tage.
Hesiods bekanntesten Schriften – die Theogonie und Werke und Tage – sind auch viel kürzer, als Homers wuchtige Epen, die Ilias und die Odyssee. So lassen sich die Schöpfungsgeschichte und das Lehrgedicht des kreativen Hirten in ein paar Mußestunden lesen. Mache wir das doch mal! Los geht’s, chronologisch, mit dem mutmaßlich zuerst verfassten Werk.
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Hesiods Theogonie
Eine Schöpfungsgeschichte mit 50-köpfigen Riesen, die einander ihre 50 Köpfe einschlagen? Wenn Hesiod von der Entstehung der Welt erzählt, dann geht’s zur Sache. Die Theogonie wimmelt vor Gottheiten, die einander begehren, bekriegen, betrügen, und wilden Fabelwesen, die wie aus einem tierischen Baukasten zusammengesteckt daherfliegen. Manches wirkt abstrus, anderes kommt uns allzu bekannt vor. Ein Blick auf eine der ältesten Quellen zur griechischen Mythologie.
Es war einmal… an einem grünen Hang im griechischen Gebirge Helikon, da lag ein junger Mann im Gras. Um ihn herum weideten die Schafe, die er zu hüten hatte, bis plötzlich dem dösenden Hirten die Töchter des Zeus begegneten, dem obersten der olympischen Gottheiten. Die Töchter waren empört über die Faulheit des Mannes, der da zwischen den Schafen lag:
[26] Hirtenpack ihr, Draußenlieger und Schandkerle, nichts als Bäuche, vielen Trug verstehen wir zu sagen, als wäre es Wahrheit, doch können wir, wenn wir es wollen, auch Wahrheit verkünden.
Hesiod: Theogonie, S. 5
Mit dieser Mission schicken sie ihn los: Die Wahrheit solle der Mann verkünden! Sein Name war Hesiod – und jene Töchter, das waren die Musen. Sie brachen den Zweig eines Lorbeerbaums ab, übergaben ihn dem Mann als Stab, und hauchten Hesiod göttlichen Gesang ein. Damit war er gewappnet, um von der Entstehung der Götter zu berichten. Apropos, woher kamen diese Musen?
Herkunft der Musen
[53] Diese gebar in Pierien, dem Kronossohn [das ist Zeus] und Vater der Musen in Liebe vereint, Mnemosyne [die Göttin des Gedächtnisses], die an den Hängen des Eleuther waltet; sie schenken Vergessen der Übel und Trost in Sorgen. Neun Nächte nämlich einte sich ihr der Rater Zeus und bestieg fern von den Göttern ihr heiliges Lager; als aber die Zeit kam […], gebar sie neun Mädchen von gleicher Art, deren Herz in der Brust am Gesang hängt und deren Sinn frei von Kummer ist […].
S. 7
Neun Nächte miteinander verbracht, neun Mädchen gezeugt. Diese bestechende Logik ist laut Otto Schönberger (Herausgeber der hier zugrundeliegenden Hesiod-Ausgaben, siehe: Literaturverzeichnis) in Mythen nicht unüblich: Die Zahl der Kinder entspreche häufig der Zahl der miteinander verbrachten Nächte.1
Mir gefällt die Idee, dass die Göttin des Gedächtnisses die Musen hervorbringt, die Schutzgöttinnen der Künste. Denn was will Kunst viel mehr, als im Gedächtnis zu bleiben?
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Hesiods Epicness
Doch es ist nicht in erster Linie des Hirten Dichtkunst, die im Gedächtnis bleibt. Mag daran liegen, dass ich (der ich damals im Griechisch-Unterricht leider nur körperlich anwesend war) Hesiod nicht im Original gelesen habe, Götter bewahret! Erst recht nicht im Gedächtnis bleibt mir, wer wen zeugte. Obwohl die Theogonie in ihrer literarischen Ausschmückung stellenweise um einiges spannender ausfällt als etwa die Bibel. Hesiod unterschlägt auch nicht, dass am Zeugungsakt zwei beteiligt sind. Vergleich:
BIBEL, Matthäus 1,2: Abraham zeugte Isaak. Isaak zeugte Jakob. Jakob zeugte Juda und seine Brüder. Juda zeugte Perez und Serah von Thamar. Perez zeugte Hezron. Hezron zeugte […]
HESIOD, Theogonie 295: Noch ein unbezwingliches Scheusal gebar Keto, das weder sterblichen Menschen noch ewigen Göttern gleicht, in gewölbter Höhle, die wundersame, mutige Echidna, halb Mädchen mit lebhaften Augen und schönen Wangen, halb Untier, greuliche, riesige Schlange, schillernd und gierig nach Blut im Schoß der heiligen Erde. […] Mit Echidna, heißt es, vereinte sich liebend Typhaon, der furchtbare, ruchlose Frevler, mit dem lebhaft blickenden Mädchen, das von ihm empfing und mutige Kinder gebar. Zuerst gebar sie den Hund Orthos für Geryoneus […]
Na, welche Passage geht mehr ab? Welche würdest du eher im Kino sehen wollen?
Denkanstöße vom Nachtwächter
Nachtrag: Ein aufmerksamer Leser hat mich – zu Recht – für diesen Vergleich von altertümlichen Schriftwerken ob ihrer »Coolness« gescholten. Und zwar wurde ich der groben Vereinfachung überführt. Jener Leser schrieb mir folgende Denkanstöße:
Das Judentum wurde sowohl von den Griechen als auch von den Römern als »Volk von Philosophen« bezeichnet, weil die – nennen wir es – »Volksbildung« recht hoch war. Fachsimpeln war scheinbar Bestandteil der Religionsausübung. Die Geschlechter-Listen (Abraham zeugte Isaak etc.) sind dabei nicht Teil der Schöpfung. Sie sind Resultat einer Redaktion (siehe Priesterschrift) in der verschiedene mündlich tradierte Erzählkreise in ein Gesamtwerk verpackt werden sollen. Diese langweiligen Verwandtschaftslisten sind also ein »Kit«, um verschiedene viel ältere Geschichten in eine Chronologie zu bringen.
Florian Sauret, Nachtwächter der Stadt Bocholt
Das Spannende ist, dass dem alttestamentarischen Juden die mesopotamischen, ägyptischen und später hellenistischen Theogonien bekannt waren. Sie waren Teil seines kulturellen Umfeldes. Die wirklich vielfältigen Schöpfungsvorstellungen in der Bibel gewinnen mit der Kenntnis anderer Mythen noch viel mehr an Aussagekraft. Es steckt viel mehr »heroic epicness« mit Monstern und Helden zwischen den Zeilen, als man heute auf den ersten Blick vermuten mag.
An dieser Stelle, vielen Dank fürs Feedback und die Vertiefung! Und um auch die Komplexität der griechischen Mythologie nochmal so übersichtlich und unterhaltsam wie möglich zu vermitteln, gibt’s hier ein unterhaltsames Video von Maurus Amstutz, der die Theogonie als Animationsfilm adaptiert hat. Bestes YouTube-Kommentar mit Bezug auf den irren Inhalt der Mythen: »Wenn du denkst, dein Vater liebt dich, aber deine Geschwister frisst und dich mit einem Stein verwechselt…«
Hesiods Frauenbild
Nun denn, es ist nicht nur die ungeheuerliche Titanen-Parade aus der Theogonie von Hesiod, die in Erinnerung bleibt. Stattdessen prägt sich ins Gedächtnis, wie der antike Dichter bereits inbrünstig gegen die weibliche Hälfte der Menschheit wettert. Diese sei, personifiziert in einer verhängnisvollen Jungfrau, als Strafe des Göttervaters auf die Erde gekommen. Eine Strafe dafür, dass der Mensch sich einst des Feuers bemächtigt hat.
[570] Sogleich schuf er den Menschen für das Feuer ein Unheil. Aus Erde nämlich formte der ruhmreiche Hinkfuß Hephaistos nach dem Plan des Kronossohnes das Bild einer züchtigen Jungfrau. […] Staunen hielt unsterbliche Götter und sterbliche Menschen gebannt, als sie die jähe List erblickten, unwiderstehlich für Menschen. Stammt doch von ihr das Geschlecht der Frauen und Weiber.
Hesiod: Theogonie, S. 47
Diese unwiderstehliche Jungfrau, die Zeus den Menschen schickte, war Pandora. Jene Pandora, von der sich die heute noch sprichwörtliche »Büchse der Pandora« ableitet. Allein, dass die »Büchse« einem Übersetzungsfehler oder Kunstgriff aus der Renaissance zurückgeht. Bei Hesiod schickte Zeus seine tückische Kreation noch mit einem Fass los, zu den Menschen.
[591] Von ihr kommt das schlimme Geschlecht und die Scharen der Weiber, ein großes Leid für die Menschen; sie wohnen bei den Männern, Gefährtinnen nicht in verderblicher Armut, sondern nur im Überfluß. […] Gerade so schuf der hochdonnernde Zeus zum Übel der sterblichen Männer die Frauen, die einig sind im Stiften von Schaden. Auch sandte er ein weiteres Übel zum Ausgleich des Vorteils: Wer die Ehe und schlimmes Schalten der Weiber flieht und nicht freien will, der kommt in ein mißliches Alter, weil es dem Greis an Pflege fehlt.
S. 49
Wer Frauen traue…
Soll heißen: Man könne weder mit noch ohne sie leben. Denn obwohl die Frauen ein beschwerliches Laster seien, bräuchte die Männer sie doch zur Zeugung von Nachkommen, die den Vater im hohen Alter pflegen kann. Schönberger kommentiert: »Die Frau ist die Strafe. Hesiod war (aus Erfahrung?) ein Frauenfeind und will die schlimme, ja vernichtende Rolle der Frau im Leben der Menschen darstellen.«2 Diese Agenda setzt er in seinem viel zitierten und weit verbreiteten Lehrgedicht fort. Hesiods Werke und Tage enthält nicht wenige frauenverachtende Bemerkungen.
Laß dir auch nicht den Sinn vom süßen Geschwätz eines sterzwedelnden Weibes, das auf dein Häuschen aus ist, betören, denn wer einer Frau traut, der traut auch Dieben. (S. 31)
[…] zur Zeit des lähmenden Sommers, dann sind die Geißen am fettesten und der Wein am besten, sind die Frauen am geilsten, die Männer aber am schlappsten […] (S. 45)
[…] dann suche, das rate ich dir, einen Knecht ohne Hausstand und eine Magd ohne Kinder, denn eine, die schon gekalbt hat, ist lästig. […] (S. 49)
Hesiods Wirkung
Die Abscheu gegen das andere Geschlecht, die hat der wortgewandte Hirte (wie viele der Gottheiten und deren Abenteuer) nicht erfunden. Doch mit seiner Dichtung hat er dazu beigetragen, diese Abscheu zu verbreiten und zu überliefern. Welch ironisch-schicksalhafte Ähnlichkeit zu jenem Mythos damit einhergeht: Wenn Pandora es gewesen sein soll, aus deren Büchse heraus sich der Legende nach die Frauen ausgebreitet haben – dann waren es Autoren wie Hesiod, aus deren Büchern heraus sich im realen Leben der Frauenhass verbreiten konnte, über Generationen. Platon kritisierte ein paar Jahrhunderte später vieles von Hesiods Dichtung als »unwahre Erzählungen«, die den »unverständigen und jungen Leuten« nicht so unbedacht überliefert werden, »sondern am liebsten verschwiegen bleiben« sollten.3 Das geringschätzige Frauenbild jedoch, das Hesiod vermittelt, ist bei Platon ebenso zu finden, wie bei vielen Philosophen nach ihm (mehr über Platons Frauenbild im Beitrag über Platons Dialoge). Apropos Philosophie…
Was seine Wirkung anbelangt, wird Hesiod insbesondere auf die frühe Philosophie Griechenlands (vor Sokrates) ein Einfluss zugeschrieben. Indem er den mythischen Wesen seiner Erzählung die Bezeichnung oder Eigenschaften von Gegebenheiten der Wirklichkeit gab – so verkörpert die Göttin Gaia etwa die Erde – vollzieht Hesiod »einen Schritt von der epischen Dichtung zur Philosophie«, schreibt Schönberger und nennt Hesiod einen »Vorbote[n] spekulativen Denkens« in den »Schranken überlieferter Vorstellungen«.4 Hesiod in diesem Vorboten-Sein allerdings ’ne besondere Leistung zuzuschreiben wäre indes, als würden wir einen Frosch dafür loben, dass er als Wassertier bereits Beine hat. Der Gedankengang von Mythen zur Metaphysik, von der Erkenntnistheorie hin zur wissenschaftlichen Forschung vollzieht sich in ähnlich evolutionären, ihrem Gewicht unbewussten Einzelschritten, wie der Werdegang vom Meeresbewohner zum Menschenaffen.
Nächstes Werk: Hesiods Lehrgedicht Werke und Tage in deutscher Übersetzung und voller Länge findest du hier.
Hesiods Werke und Tage
Rhapsoden, das waren umherziehende Sänger im antiken Griechenland. Rapper auf Tour, würden wir heute sagen. Solche Rhapsoden waren es, die dem jungen Hirten Hesiod erst das Dichten und Singen beibrachten. So wird’s vermutet. Nach über zweieinhalb Tausend Jahren lässt sich vieles nicht mehr mit Sicherheit sagen. Was sich aber noch sagen lässt, ist die Richtung, in die ein Mann ums Jahr 700 vor unserer Zeit zu pinkeln hatte. Dank Hesiod und seinem Lehrgedicht Werke und Tage.
Tipps fürs Wasserlassen machen natürlich nur einen kleinen Teil dieses Gedichts aus, von dem angenommen wird, dass Hesiod es nach seiner Theogonie geschrieben hat. Schon darin nahm Hesiod ja als »Hirtenpack« auf sich Bezug (so zitiert er jedenfalls die Musen, die ihn aufscheuchten, das Faulenzen zu lassen und der Dichtung zu frönen). Auch in Werke und Tage dichtet Hesiod wieder aus Sicht des einfachen Kleinbauern, weil er vermutlich selbst einer war, und richtet sich an seinesgleichen. Sein Zeitgenosse Homer war ein Kenner der aristokratischen Oberschicht seiner Zeit.5 Dazu bietet Hesiods sozusagen die Kehrseite, vom unteren Ende der Gesellschaft, wo Misswirtschaft in Existenznot übergehen konnte. Wie lebte es sich da?
Hesiod über Haus und Familie
Deinen Mitteln entsprechend bereite den unsterblichen Göttern die Opfer rein und frei von Befleckung und verbrenne ihnen glänzende Schenkelstücke. Dann wieder stimme sie mit Weinspenden und Weihrauch gnädig, wenn du zu Bett gehst und wenn das heilige Licht wiederkehrt, auf daß sie dir Gnade in Herz und Sinn bewahren und du fremden Grund erwirbst, nicht ein anderer den deinen.
Hesiod: Werke und Tage, S. 27
Wer Fleisch und Wein als Opfergaben übrig hat, kann so arm nicht sein. Im antiken Böotien, wo Hesiod gelebt haben soll (mitten im heutigen Griechenland), da war Ackerland in Privatbesitz – nicht, wie später im Mittelalter, in den Händen adliger Herrschaften. So lebten Kleinbauern wie Hesiod im Wohnhäuschen auf eigenem Hofe, der ein paar Tierställe und Lagerräume umfassen mochte, bewohnt von Ziegen, Schafen, Ochsen, gegebenenfalls auch versklavtem Personal. Zum Hausstand gehörte zudem eine Frau, die laut Hesiod kaum mehr Ansehen genoss, als Bedienstete und Tagelöhner.
Erst ein Haus, dann eine Frau und den Ochsen zum Pflügen; die Frau sei gekauft, nicht gefreit und soll auch die Ochsen antreiben.
S. 33
Mädchen wurden dieser Tage nicht selten sehr jung verheiratet. Hesiod scheint sich in Werke und Tage gegen eine allzu frühe Ehe auszusprechen und empfiehlt eine Heirat »vier Jahre nach der Pubertät der jungen Frau«, so Schönbergers Interpretation von Hesiods Zeilen. Was Nachwuchs anbelangt, spricht Hesiod sich für nur einen Sohn aus. Schönberger dazu:
Das Ein-Kind-System (mit der Barbarei der Kinderaussetzung) verhindert Zerstückelung der Güter. Bei der Kargheit des Landes ist die Sorge vor Übervölkerung freilich verständlich.
S. 77
Hesiod als Rechtsphilosoph
In Werke und Tage nimmt Hesiod mit einer tierischen Metapher von Nachtigall und Habicht auch Anstoß am »Naturrecht« des Stärkeren. (Womit er Teile aus Platons Gorgias vorwegnimmt, wie Schönberger bemerkt.) Stattdessen hält Hesiod das Recht der Götter in Ehren:
Diese Ordnung setzte nämlich Kronion [Zeus] den Menschen, den Fischen, allem Getier und fliegenden Vögeln: daß Tiere zwar einander auffressen, weil bei ihnen kein Recht herrscht, während er den Menschen Recht verlieh, das höchste Gut und allen. Entschließt sich nämlich einer zu sagen, was er als Recht erkennt, dem schenkt Zeus, der weitblickende, Segen;
S. 23
Das unter »Recht« allerdings vieles verstanden werden kann, das haben die Jahrhunderte seit Hesiod gezeigt. Nichtsdestotrotz macht sich der Dichter mit seinen Ausführungen zum ersten schriftlich überlieferten Rechtsphilosophen des Okzidents.
Hesiods Bruder
Im ersten Absatz von Werke und Tage richtet sich Hesiod gleich mit dem ersten Wort an die Musen, von denen wir aus der Theogonie ja wissen, dass sie dem Hirten »den göttlichen Sang« eingehaucht haben. Doch wenige Zeilen später kommt Hesiod auf Perses zu sprechen, dem er »Wahres verkünden« möchte. Perses war ein Bruder Hesiods und hat offenbar sein Geld verprasst. Dass er Hesiod aufsuchte und Anspruch aufs väterliche Erbe erhob, gab wohl den Anlass für dieses Lehrgedicht: ein brüderlicher Rechtsstreit liegt Werke und Tage zugrunde. Hesiod belehrt seinen Bruder, wie man sich als sparsamer, vorausschauender Mensch zu betragen habe. Doch er spannt den Bogen größer und richtet sich, letztendlich, an die allgemeine (bäuerliche) Weltöffentlichkeit. Mit erstaunlich pragmatischen Tipps, etwa für Landwirte, die es verpennt haben, rechtzeitig ihre Saat zu streuen:
Hast du nämlich zu spät gesät, dann gäbe es folgende Heilung: Ruft der Kuckuck erstmals im Jahr »Kuckuck« im Laub der Eiche und erfreut die Menschen auf der unendlichen Erde, dann läßt es Zeus vielleicht drei Tage lang regnen, nicht mehr, als daß es die Spur eines Maultiers füllt, doch auch nicht weniger. So holt der Spätpflüger den Frühpflüger wohl noch ein.
S. 39
Hesiods Pinkeltipps
Zu guter Letzt, die Pinkeltipps! Denn während bei Wikipedia (Stand März 2020) in höchsten Tönen die literaturgeschichtlich »kaum zu überschätzende Nachwirkung« hervorgehoben wird, bleibt mein von infantilem Pipi-Kaka-Humor infiltriertes Hirn an Absätzen wie diesem hier hängen:
Pisse auch nicht zur Sonne gewandt im Stehen; […] Hockend macht es ein trefflicher Mann, der was, was man tun soll, oder er tritt zur Wand des wohlumwehrten Gehöftes.
S. 55
Scheiß die Wand an is’ dat schön. Schönberger gibt noch ein paar strahlharte Infos mit auf den Weg: »Urinieren im Hocken findet sich als Brauch frommer Männer in Griechenland noch heute.« Ja, und in meinem Elternhaus hing über der Schüssel ein Schild mit der Aufschrift: »Willst du mich im Stehen nutzen, darfst du mich danach auch putzen.« Dieses Schild werde ich nie wieder mit denselben Augen lesen, sondern dabei an die »kaum zu überschätzenden Nachwirkungen« jenes altertümlichen Lehrgedichts denken.
Fazit und Ausblick
Werke und Tage ist schmal vom Umfang und reich im Inhalt: Von der Legende der Pandora (denn jene »hübsche, lockende Mädchengestalt« – S. 9. – aus der Theogonie kommt auch hier wieder vor) bis hin zu einer Art Almanach, der die besten Tage zum Ernten und Gebären von Kindern benennt, ist allerlei in diesem Lehrgedicht enthalten. Interessant für Studierende, denen es um die Anfänge der Rechtsphilosophie geht, ebenso wie für Forschende, die den Wurzeln der literarisch tradierten Misogynie auf die Spur gehen möchten. Nun denn, genug vom Bauerndichter. Im nächsten Beitrag wenden wir uns endlich dem »Dichter für Könige« zu – nämlich Homer und seiner Odyssee.
Hinweis: Hier geht’s zum Literaturverzeichnis.
Fußnoten
- Hesiod: Theogonie, S. 82.
- Ebd., S. 116.
- Vgl. Platon: Sämtliche Werke, Band 2, S. 269f. (Politeia, 40a über musische Bildung)
- Vgl. Hesiod: Theogonie, S. 152.
- Hier geht’s zu einem Beitrag über Homer und dessen Odyssee.