Mit wessen Werk hat die lange Geschichte literarischen Schaffens eigentlich angefangen? Die Antwort liefert dieser Beitrag, über »die weltweit erste namentlich bekannte Persönlichkeit, der die Schaffung literarischer Texte zugeschrieben werden kann« (Frahm 2013, 118). Es geht um die Prinzessin, Priesterin und Poetin Enheduanna. Sie liefert ein starkes Beispiel dafür, was in der Auseinandersetzung mit Literatur für eine unglaubliche Kraft stecken kann.
Die Wiege der Kultur
Viele Grundbausteine höherer Kultur wie etwa Stadt und Staat, Schrift und Literatur, Mathematik, Wissenschaft, Recht und Musik sind erstmals im alten Mesopotamien und in Ägypten bezeugt. (Frahm 2013, 254)
Wir begeben uns in den Kulturraum Mesopotamien, das »Land zwischen den Strömen« genannt. Gemeint sind der Euphrat, der größte Strom Vorderasiens, sowie der Fluss Tigris. Dieser Kulturraum zwischen Euphrat und Tigris umfasst »den heutigen Irak und die angrenzenden Regionen Nordsyriens, [die] südöstliche Türkei und [den] westlichen Iran« – dort begann »vor über 10.000 Jahren die Neolithische Revolution, als die ersten Menschen zu Ackerbau und Viehzucht übergingen und sesshaft wurden« (Korn 2013, 10). Und bereits vor rund 5000 Jahren entstanden in diesem Kulturraum »komplexe Gesellschaften mit Bürokratie und Schrift.«
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Diese erste Schrift der Welt entwickelte sich in Sumer aus den Piktogrammen, also Bildchen, die Kaufleute für ihre Buchhaltung benutzten. Dabei schrieben sie mit einem Stift aus Schilfrohr, Rohrgriffel genannt, in eine Oberfläche aus weichem Ton. Wegen der keilförmigen Zeichen wird diese Schrift heute Keilschrift genannt. Doch weil sie eben zur Buchhaltung und dergleichen diente, sind uns keine literarischen Werke oder Namen schriftstellerisch tätiger Menschen aus dieser Zeit bekannt.
Enheduanna und ihre Hymnen
Eine bemerkenswerte Ausnahme bilden einige Tempelhymnen aus dem 23. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung – denn darin lesen wir erstmals den Namen einer Person, die sich als Urheberin zu erkennen gibt: die Hohepriesterin Enheduanna.
Nicht aus der Feder Enheduannas, sondern aus ihrem Rohrgriffel sind uns zwei hymnische Texte bekannt, die sie an die Göttin Inanna richtete. […] Neben den beiden Hymnen geht ein langes Preislied auf die wichtigsten Tempel Mesopotamiens ebenfalls auf Enheduanna zurück.
Helga Vogel1
Wer war diese Enheduanna? Und warum wurde sie eines Tages aus ihrer Heimatstadt verbannt und in die Wüste geschickt, wortwörtlich? Enheduanna lebte vor rund 4300 Jahren, im 23. Jahrhundert v. u. Z. – und damit noch lange vor der griechischen Dichterin Sappho. Wenn wir uns genauer mit ihrem Schaffen beschäftigen, dann erweist sich Enheduanna als »eine starke und kreative Persönlichkeit, eine gebildete Frau – und eine, die verschiedene Rollen in einer komplexen Gesellschaft erfüllte.«2 Im Folgenden wollen wir drei dieser Rollen genauer betrachten: Enheduanna als Königstochter, als Hohepriester und als Autorin.
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Die Königstochter Enheduanna
Enheduannas Vater war König Sargon der Große, der erste Reichsgründer der Geschichte. Er eroberte die zuvor unabhängigen Stadtstaaten Mesopotamiens und vereinte sie unter einem gemeinsamen Banner – dem Reich Akkad. Das war der erste Flächenstaat, der rund 150 Jahre lang und über mehrere Generationen einer herrschenden Familie hinweg Bestand hatte. Doch den Frieden zu halten, war nicht einfach.
Sargon war ein nördlicher Semit, der Akkadisch sprach, und die älteren sumerischen Städte im Süden betrachteten ihn als einen fremden Eindringling. Sie rebellierten häufig, um ihre Unabhängigkeit wiederzuerlangen, was seine Dynastie bedrohte. Um die Kluft zwischen den Kulturen zu überbrücken, ernannte Sargon seine einzige Tochter, Enheduanna, zur Hohepriesterin im wichtigsten Tempel des Reiches.
Soraya Field Fiorio: Who was the world’s first author?, TED-Ed, 23.03.2020.
Und zwar dem Tempel in der Stadt Ur, in der rund 34.000 Menschen lebten – was für damalige Verhältnisse gewaltig war. Dass weibliche Angehörige von Königsfamilien religiöse Aufgaben übernahmen, hatte übrigens Tradition.
Die Hohepriesterin Enheduanna
Enheduannas Ausbildung umfasste neben dem Rechnen auch das Lesen und Schreiben in akkadischer und sumerischer Sprache. Als Hohepriesterin von Ur hatte Enheduanna schließlich so einiges zu tun.
[Sie] verwaltete die Getreidelagerung der Stadt, beaufsichtigte Hunderte von Tempelarbeitern, interpretierte heilige Träume und leitete das monatliche Neumondfest. [Außerdem] machte sich Enheduanna daran, die ältere sumerische Kultur mit der neueren akkadischen Zivilisation zu vereinen.
Soraya Field Fiorio: Who was the world’s first author?, TED-Ed, 23.03.2020.
Zu diesem Zweck schrieb Enheduanna über 40 Hymnen, welche die akkadische und die sumerische Mythologie miteinander verbanden. Im altertümlichen Zweistromland hatte jede Stadt ihre eigene Schutzgottheit. Diesen waren Enheduannas Hymnen gewidmet.
Enheduanna pries den Tempel der jeweiligen Stadt, verherrlichte die Attribute ihrer Gottheit und erklärte die Beziehung dieser Gottheit zu all den anderen Gottheiten innerhalb des Pantheons.
Soraya Field Fiorio: Who was the world’s first author?, TED-Ed, 23.03.2020.
Mit dem Pantheon ist die Gesamtheit aller Gottheiten einer polytheistischen Religion gemeint – also einer, in der es mehr als nur einen Gott gibt. Nun zur bemerkenswerten Art und Weise, wie Enheduanna ihr Schriftwerk vollbrachte.
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Die Autorin Enheduanna
In ihren Schriften vermenschlichte Enheduanna die sonst so unnahbaren Gottheiten – und ließ sie leiden, lieben, kämpfen und mit den Menschen in Kontakt treten. Einen besonders persönlichen Einblick, nicht nur in ihre Zeit und ihren Glauben, sondern auch in Enheduannas eigenes Leben, den vermittelt Nin-me-šara (Ninmeschara), »ein Preislied auf die Göttin Inanna, das in subtiler Weise auch auf politische Sachverhalte anspielt.«3
Inanna war die Göttin des Krieges und der Begierde, die sich »an allen Formen des sexuellen Ausdrucks« erfreute, wie es die New Yorker Historikerin Soraya Field Fiorio es in ihrem grandios animierten Beitrag zu Enheduanna beschreibt:
Inanna galt als so kraftvoll, dass sie die Grenzen des Geschlechts übertrat – ebenso, wie ihre irdische Gefolgschaft, die Prostituierte, Eunuchen und Crossdresser sein konnten. Enheduanna setzte Inanna als mächtigste Gottheit an die Spitze des Pantheons. Ihre Lobgesänge an Inanna markieren das erste Mal, dass jemand das Pronomen »Ich« schreibt, und das erste Mal, dass das Schreiben zur Erforschung tiefer, privater Emotionen verwendet wird.
Nin-me-šara ist ein solcher Lobgesang, der übrigens nicht von Enheduanna so benannt wurde. Der heutige Titel gibt einfach nur die ersten paar Worte des sumerischen Textes wieder. Zu Deutsch bedeuten sie so viel wie: »Herrin der unzähligen göttlichen Kräfte.« Eine deutsche Übersetzung der gesamten Hymne stammt von der Göttinger Sumerologin Annette Zgoll. Hier ein Auszug davon:
Große Herrin der Herrinnen, für die wirkmächtigen göttlichen Gewalten / aus schicksalsträchtigem Mutterleib hervorgekommen, größer als die eigene Mutter, / klug vorausschauend, Herrin über alle Länder, / die vielen Menschen Leben gewährt, dein schicksalsbestimmendes Lied will ich dir jetzt singen!
Zeilen 60-63, übersetzt von Annette Zgoll4
Voll des Lobes ist Enheduanna für die Göttin Inanna. Doch dann sucht sie Hilfe bei der Erhabenen. Denn der Hohepriesterin ist von einem Widersacher übel mitgespielt worden:
[…] muß ich sterben, weil ich mein schicksalsbestimmendes Lied angestimmt habe? / […] Nach einem triumphalen Aufmarsch hat man mich aus dem Tempel vertrieben. / Wie eine Schwalbe hat er mich vom Fenster weggescheucht […] / Ins Dorngestrüpp des feindlichen Landes hat er mich weggeschleppt / Die rechte Krone des Priestertums entriß man mir, / gab mir ein Messer und sprach: »Das ist dein Schmuck!«[6]
Zeilen 99-108
Was geht da vor? Enheduanna beklagt ein Unrecht, das ihr besagter Widersacher getan habe. Dabei handelt es sich um Lugal-Ane, dem neuen »starke[n] Mann in der Stadt Ur«.
Der Rechtsfall Enheduanna
Lugal-Ane ist ein General, der nach dem Tod von Enheduannas Vater, König Sargon, das Machtvakuum für einen Putsch nutzt.
[Lugal-Ane] sieht sich vom Stadtgott Nanna unterstützt, ist aber angewiesen auf die Oberpriesterin, die als Tochter Sargons eine politische Schlüsselrolle spielt. Als die Prinzessin sich weigert, enthebt er sie ihres sakralen Amtes; sie wird aus der Stadt vertrieben und muss ins Exil […]. So gedemütigt fleht sie die Göttin der Sargon-Dynastie an […].
Johannes Saltzwedel: Prinzessin im heiligen Zorn. In: Spiegel Geschichte (2, 2016).
Ein Machtspiel, Politikum, Rechtsfall ist es also, der diesem Preislied zugrunde liegt. Jene Übersetzerin, Annette Zgoll, hat diesen Fall auf über 600 Seiten rekonstruiert, in ihrem Werk: Der Rechtsfall der En-hedu-Ana im Lied nim-me-šara (1997). Zum Ausgang des Falls schreibt Zgoll: »Es steht zu vermuten, dass Enheduanna in ihr Amt nach Ur« zurückgekehrt sei (zitiert nach Saltzwedel). Enheduannas Neffe – der legendäre König Naram-Sin – soll es gewesen sein, der den Aufstand niederschlug und seine Tante zurück ins Amt erhob.
Insgesamt diente Enheduanna 40 Jahre lang als Hohepriesterin. Nach ihrem Tod wurde sie selbst zu einer kleinen Gottheit, und ihre Gedichte wurden über 500 Jahre lang im ganzen Reich kopiert, studiert und aufgeführt. Ihre Gedichte beeinflussten das hebräische Alte Testament, die Epen Homers und christliche Hymnen. Heute existiert das Vermächtnis Enheduannas noch immer, auf Tontafeln, welche die lange Zeit überdauert haben.
Soraya Field Fiorio: Who was the world’s first author?, TED-Ed, 23.03.2020
Hinweis: Ebenfalls in Stein gemeißelt und bis heute erhalten geblieben ist ein Abbild von Enheduanna, auf einer Scheibe aus Alabaster. Gefunden hat sie 1926 der Archäologe Charles Woolley, archiviert hat sie derzeit das Penn Museum in Philadelphia.
Nun denn, soweit ein Einblick in die Kulturlandschaft Mesopotamien vor über 4000 Jahren. Die erste Urheberin lebte zu ferner Zeit an einem fernen Ort, schrieb in fremder Sprache und Schrift und doch: In die eigene Sprache übersetzt, verstehen wir Enheduanna. Wir können den Zorn nachempfinden, über ihre Vertreibung, das Bangen über ihr Schicksal, die Verzweiflung, mit der sie sich an eine höhere Macht wendet. Egal, wie fern und fremd andere Kulturräume erscheinen – über Kulturgut wie solche Literatur entdecken wir Gemeinsamkeiten: Gedanken und Gefühle, die zeitlos sind, weil sie schlicht menschlich sind.
Auch wenn dieser Ausflug in die Werke der ersten Urheberin nur ein kurzer war, soll er uns Hoffnung machen: Wenn wir Empathie für eine Person von vor vier Jahrtausenden aufbringen können, uns in ihre Lage und Stimmung hineinversetzen können, dann muss es doch zwischen uns Menschen der Gegenwart umso besser möglich sein, einander zu verstehen. Wir werden sehen, ob und wie Kulturgut uns dabei wirklich behilflich sein kann.
Ausblick
Die Göttin Inanna, jene »Herrin aller Herrinnen«, war einem anderen Gott untergeordnet, dem Enheduanna ebenso huldigte. Schon ihr Name verweist auf diesen höchsten aller damaligen Gottheiten: »En-hedu-Ana« bedeutet »Hohepriesterin, Zierde des Himmelsgottes An«5, der auch die Funktion des Stadtgotts von Uruk innehatte.
Erst als Uruk in Bedeutung und Größe von Babylon abgelöst wurde, da wich auch An schließlich Marduk, dem Stadtgott Babylons, der die Funktion von An mit der Zeit übernahm. So, wie das Königreich Sargons irgendwann ein Ende fand, so gerieten auch seine Wesen des Himmelreichs in Vergessenheit. Andere Gottheiten traten an ihre Stelle, um sich fortan der Ängste und Hoffnungen der Menschen anzunehmen. Daran hat sich bis heute nichts geändert.
Die Bedeutung des Stadtgotts Marduk spiegelt sich übrigens in dem babylonischen Schöpfungsepos Enūma eliš wieder, niedergeschrieben auf sieben Tontafeln, viele hundert Jahre vor unserer Zeitrechnung. Diese Geschichte, »eine der ältesten, wenn nicht die älteste Geschichte der Welt«, handelt von der Geburt der Gottheiten und der Erschaffung des Universums und der Menschen6 – ein Thema, das uns Menschen im Laufe der Jahrtausende zu vielen ähnlichen Geschichten bewegt hat. Mehr dazu im Beitrag über Schöpfungsmythen. Hier sei zum Schluss noch darauf hingewiesen,
[…] dass es in Dingen des religiösen Denkens keine creatio ex nihilo, keine Schöpfung aus dem Nichts, gibt. Die jüdisch-christliche Tradition und mittelbar auch die Tradition des Islam beruhen bis heute auf Voraussetzungen, die im alten Mesopotamien geschaffen wurden.
Eckart Frahm: Geschichte des alten Mesopotamien, S. 272.
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Literatur
Frahm, Eckart: Geschichte des alten Mesopotamien. Stuttgart: Reclam 2013.
Korn, Wolfgang: Mesopotamien. Wiege der Zivilisation und aktueller Krisenherd. Theiss. 2013.
Fußnoten
- Helga Vogel: Enheduanna – erster homme des lettres der ‚Weltliteratur`. Rundbrief Nr. 74, Jg. 24, Juli 2014, FemArc – Netzwerk archäologisch arbeitender Frauen e. V.
- Vgl. Janet Roberts: Enheduanna, Daughter of King Sargon, Princess, Poet, Priestess (2300 B.C.)
- Eckart Frahm: Geschichte des alten Mesopotamiens, S. 119.
- Die Übersetzungen von Annette Zgoll sind zitiert nach einem Lesestück der Universität Göttingen.
- Vgl. Lesestück der Universität Göttingen.
- Vgl. Joshua J. Mark: Enuma Elish – The Babylonian Epic of Creation, 4. Mai 2018.