Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft

In diesem Beitrag geht es um Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Dabei handelt es sich um die umfangreichste Schrift von Hannah Arendt, vielfach ihr »Hauptwerk« genannt. Es umfasst rund 1000 Seiten in drei Teilen, über Antisemitismus, Imperialismus und Totale Herrschaft, und kann hier nur oberflächlich behandelt werden. Im Anschluss an die Beschäftigung mit Arendts Buch Vita activa sollen im Folgenden zunächst die Tätigkeit des Handelns und die Rolle von Geschichten den Blickwinkel bilden, aus dem wir Elemente und Ursprünge betrachten. Zum Schluss rückt die These in den Fokus, die Arendt darin aufstellt. 📖 | Lesezeit: 7 Min.

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Über Hannah Arendt

Hannah Arendt war eine deutsche Jüdin, die 1933 als Mittzwanzigerin nach Frankreich emigrierte. Dort lebte sie lange im Exil und wanderte schließlich in die USA aus. Nach dem Zweiten Weltkrieg unternahm sie eine Studie über den Nationalsozialismus und den Stalinismus. Daraus hervorgegangen erschien 1951 das Werk The Origins of Totalitarianism. Zu Deutsch: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. »Dieses Buch stellt den Versuch dar«, schreibt Arendt, »zu verstehen, was auf den ersten und selbst den zweiten Blick nur ungeheuerlich erschien.« Ihr Ziel war es zu begreifen, auf bestimmte Weise, um…

…die Last, die uns durch die Ereignisse auferlegt wurde, zu untersuchen und bewußt zu tragen und dabei weder ihre Existenz zu leugnen noch demütig sich ihrem Gewicht zu beugen, als habe alles, was einmal geschehen ist, nur so und nicht anders geschehen können. […] Begreifen bedeutet, sich aufmerksam und unvoreingenommen der Wirklichkeit, was immer sie ist oder war, zu stellen & entgegenzustellen.

Elemente und Ursprünge, S. 25

Alle Seitenangaben beziehen sich auf die Werkausgabe vom Piper Verlag, siehe: Literaturverzeichnis.

Die Zerstörung der Wirklichkeit, schreibt Arendt, sei eine ernstzunehmende Gefahr. Und zwar immer dann, wenn Welt-Anschauungen mit der Erzählung realitätsferner Narrative (Fake News) »verwirklicht« werden. 🗯

Das ist kein neues Phänomen. Doch es ist heutzutage in einem beispiellosen Maße möglich und gängige Praxis. Arendt erweist sich als vorausschauende Kommentatorin.

Den modernen Ideologien […] geht es darum, einen Sieg auf Kosten der Wirklichkeit selbst zu erringen.

Die einen zerstören die Würde des Denkens, während die anderen versuchen, die Würde des Handelns und damit der geschichtlichen Realität zu vernichten.

Vgl. S. 40

Die Tätigkeit des Handelns

Weiter heißt es, in Bezug auf die Missachtung und Manipulation von Tatsachen: »Was heute auf dem Spiel steht, ist die Existenz der Geschichte selbst, sofern sie verstanden und darum erinnert werden kann.« (S. 41) Die Aufgabe, menschliches Leben zu stabilisieren und eine »Objektivität« zu gewährleisten, schreibt Arendt den Weltdingen zu.1 Darin geht es um die drei Grundtätigkeiten des menschlichen Lebens: das Arbeiten, Herstellen und Handeln. Mehr dazu im Beitrag über Arendts Vita activa.

So, wie das Herstellen Gegenstände produziert, bringt das Handeln Geschichten hervor. Diese Geschichten müssen jedoch verdinglicht werden, um der Vergänglichkeit des Handelns und Sprechens zu entkommen und in der Welt bleiben zu können – in »Kunstwerken sichtbar gemacht […], im Gedächtnis der Generationen wieder und wieder nacherzählt und in allen möglichen Materialien vergegenständlicht«, schreibt Arendt.2 Gemeint sind zum Beispiel auch, ganz einfach: Romane. 📚

Die Ära der Menschheit

Dr. Maike Weißpflug bezeichnet das Erzählen bei Arendt als »ein Mittel, sich durch narrative Konkretion Erfahrungen anzueignen und die Grenzen des Machbaren zu erkennen. Dichterisch denken heißt darum nach Arendt auch immer: begrenzt denken.«3 Damit habe Arendt sich als geistige Wegbereiterin des Anthropozäns erwiesen. Das ist der Begriff für das Zeitalter der Menschheit.

Mit dem Anthropozän ist die Ära aller Menschen auf Erden, vom ersten bis zum letzten Homo sapiens geochronologisch eingegrenzt. Ganz so, wie Geschichten das Leben einzelner Menschen erzählerisch eingrenzen. Auf solche Geschichten greift Arendt gerne zurück. Auch auf Dichter wie Homer oder Schriftsteller wie Joseph Conrad. Das ist eine Besonderheit in den Werken von Arendt, die auch in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft zum Tragen kommt. Arendts »Denken ohne Geländer«, wie sie es genannt hat, stützt sich nicht nur auf »philosophische oder politiktheoretische Texte, sondern ebenso literarische und poetische Narrationen«.4

Herz der Finsternis

Arendt wertet also auf ihr eigene Weise Erzählungen zu Erfahrungen auf. Diese können sowohl in der Bildung als auch Beurteilung politischer Gemeinschaften und Geschehnisse eine wichtige Rolle spielen. Und so empfiehlt sie, zum tieferen Verständnis des Rassenwahns in der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, etwa Conrads Erzählung Herz der Finsternis. Sie sei »geeigneter, diesen Erfahrungs-Hintergrund zu erhellen, als die einschlägige geschichtliche oder politische oder ethnologische Literatur.« (S. 408)

In der Auswahl der Schriftsteller*innen, aus denen Arendt ihr »literarisches Mosaik konstruiert«, wie Julia Kristeva es nennt, geht es nicht um einen um virtuosen Schreibstil. Arendt wähle Autor*innen, »die in ihren Fiktionen historisches Handeln bezeugen und ihren Zeitgenossen dessen verborgenen Sinn aufdecken.«5 🧐

Über das Hauptwerk

Aus dieser Motivation heraus macht Arendt in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft den Schriftsteller Conrad zu einem »Zeugen« des Imperialismus. Denn in Herz der Finsternis erzählt er aus eigener Erfahrung von den grauenhaften Zuständen im Belgisch-Kongo der 1880er Jahre. Mit »Imperialismus« ist das Bestreben von Staaten gemeint, über ihre eigenen Grenzen hinaus politischen bzw. wirtschaftlichen Einfluss zu nehmen. Die Dynamik dieses Bestrebens trug zu dem Niedergang von Nationalstaaten bei.

Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft · Aufteilung + PDF

Das Aufkommen von Rassismus und Imperialismus im 19. und dem frühen 20. Jahrhundert behandelt Arendt im zweiten Teil ihres Werks. Vor rekonstruiert sie im ersten Teil die Entwicklung des Antisemitismus im 18. und 19. Jahrhundert. Es geht ihr – wie der Titel nahelegt – um eine Analyse der ideen-geschichtlichen Ursprünge von Phänomenen wie dem Nationalsozialismus, der ihr eigenes Leben so einschneidend geprägt hat. Der dritte Teil behandelt Formen totaler Herrschaft.

Tipp: Einen Beitrag über auto-biographische Codierungen in Arendts Hauptwerk ist hier als PDF verfügbar.

Arendts These

Arendts These lautet, dass die totale Herrschaft mit der Zerstörung des politischen Lebens einhergeht. Dabei spielt die Entfremdung einzelner Menschen in der Massengesellschaft und unter Wirkung von Massenpropaganda eine zentrale Rolle. Nationalsozialismus und Stalinismus sind für Arendt nur zwei historische Beispiele ihrer Zeit, für totalitäre – also jeden Lebensbereich betreffende – Bewegungen. Sie vertritt aber die (im Wikipedia-Beitrag pointiert wiedergegebene) These, dass letztlich jede Ideologie oder Welt-Anschauung durch eine entsprechende totalitäre Bewegung vermittels massiven Terrors in eine neue Staatsform führen kann.

Zum Stichwort »Ideologie« schreibt Arendt folgende kritische Bemerkung:

Es gibt keine Ideologie, die nicht im Erfolg ihren höchsten, ja, eigentlich ihren einzigen Maßstab erblickt. Wer behauptet, jegliche Wirklichkeit und jedes Ereignis aus einer einzigen Grundvoraussetzung ableiten und vorhersagen zu können, kann gar nicht anders, als seine Meinung dauernd dem sich gerade Ereignenden anzupassen.

Man kann nicht gut von Leuten Zuverlässigkeit erwarten, die berufsmäßig jede einmal gegebene Realität und eingetretene Tatsache ideologisch rechtfertigen müssen.

S. 382

Was ist eine Ideologie?

Eine Ideologie ist eine Welt-Anschauung, die ihren Blick auf bestimmte Aspekte des Lebens versteift und meint, in diesen Aspekten die Antworten auf alle wichtigen Fragen zu finden. Nun hängen gängige Ideologien meist mit ganz großen Begriffen zusammen, die oft viele, manchmal verschiedene Bedeutungsebenen haben. Deshalb sind folgende Beispiele als grobe, unvollständige Vereinfachung zu verstehen. ☝️ Ideologien sind etwa:

  • Anarchismus, die Vision einer hierarchielosen Gesellschaft 
  • Chauvinismus, die Überzeugung von der Überlegenheit der eigenen Gruppe
  • Patriotismus, das starke Gefühl einer Zugehörigkeit zur Heimatnation

Wie steht der Patriotismus zum Klimawandel? Kein Kommentar, nicht sein Thema. Was hat der Anarchismus zu Ernährungsfragen zu sagen? Nichts. Auf alles außerhalb ihres Blickfelds, das ja auf bestimmte Aspekte des Lebens gerichtet ist, haben Ideologien keine Antworten parat. Da wird der menschengemachte Klimawandel lieber geleugnet, als die eigene Weltsicht zu weiten. Daher Arendts kritische Aussage bezüglich allzu ideologisch ambitionierter Leute.

Stattdessen gilt es, den eigenen Blick nicht ideologisch zu verengen, sondern nach Möglichkeit immer die Gesamtheit, die Pluralität, die Vielfalt des Lebens zu berücksichtigen. So hat zwar auch jede Einzelwissenschaft ihr Fachgebiet, sollte jedoch stets bereit sein, falsche Hypothesen fallen zu lassen. Auch dann, wenn der Impuls dazu aus anderen Wissenschaften kommt. Ebenso muss die Philosophie, ob nun als Wissenschaft anerkannt oder nicht, sich darauf einrichten, dass neues Wissen alte Ideen zum Einsturz bringen kann. Das führt uns zu der Frage: Was ist Wissen?

Fußnoten

  1. Vgl. Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 162.
  2. Vgl. ebd., S. 226f.
  3. Maike Weißpflug: Hannah Arendt. Die Kunst, politisch zu denken, S. 17.
  4. Vgl. Grit Straßenberger: Hannah Arendt. Eine Einführung, S. 62, 83f.
  5. Julia Kristeva: Das weibliche Genie: Hanna Arendt, S. 147.

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