Arendts Vita activa

In diesem Beitrag geht es um das Buch Vita activa oder Vom tätigen Leben von Hannah Arendt, die mit Simone de Beauvoir zu den einflussreichsten Denkerinnen des 20. Jahrhunderts gehört. Im Folgenden behandeln wir die drei Grundtätigkeiten des menschlichen Lebens, wie Arendt sie in Vita activa beschreibt. Das Buch gilt als ihre maßgebliche philosophische Schrift. Doch als Philosophin hat sich die Autorin gar nicht gesehen. Starten wir deshalb mit der Frage: Wer war Hannah Arendt eigentlich? | Lesezeit: ca. 7 Min.

Hinweis: Auf YouTube ist dieser Beitrag als Video verfügbar.

Wer war Hannah Arendt?

Hannah wurde 1906 in Linden geboren, heute ein Stadtteil Hannovers. Schon als kleines Mädchen bewies sie ein kluges Köpfchen und wurde besonders von ihrer Mutter gefördert. Die las mit ihr Marcel Proust im französischen Original und führte Tagebuch über die Entwicklung ihrer Tochter. Mit zunehmendem Alter nutzte Hannah auch die Bibliothek ihres Vaters. Bereits mit 14 Jahren las sie philosophische Werke, etwa von Kant und Kierkegaard. Als Studentin bändelte sie dann mit Martin Heidegger an und begann eine Karriere als Schriftstellerin. Zu ihrer Motivation hinter dem Schreiben antwortete Arendt einmal:

Was für mich wesentlich ist: Ich muss verstehen. Zu diesem Verstehen gehört bei mir auch das Schreiben. […] Und wenn andere Menschen verstehen, im selben Sinne wie ich verstanden habe, dann gibt mir das eine Befriedigung wie ein Heimatsgefühl.

Hannah Arendt

Das Zitat stammt aus dem Gespräch, das Günter Gaus mit Arendt im Jahr 1964 führte. Es ist auf YouTube verfügbar und eine tolle Möglichkeit, die Denkerin im Dialog zu erleben. Das Transkript des Gesprächs gibt’s auf rbb-online. Mehr über Werdegang und Werk von Arendt bietet u. a. der Rowohlt-Band von Wolfgang Heuer mit dem schlichten Titel: Hannah Arendt. Ebenso betitelt ist eine Einführung über Arendt von Grit Straßenberger, die auch eine literarische Grundlage war für diesen Beitrag über Arendts Vita activa. Das Werk erschien 1958 in den USA und 1960, von ihr selbst übersetzt, in Deutschland.

Vita activa oder Vom tätigen Leben

Arendt schreibt, es gehe in ihrem Buch Vita activa darum, »was wir tun, wenn wir tätig sind.« Aber was ist mit Tätigkeit gemeint, bzw. mit den drei menschlichen Grundtätigkeiten, in die Arendt alles einteilt, was der Mensch so treibt? Diese Grundtätigkeiten sind das Arbeiten, Herstellen und Handeln. Arendts Ziel ist es in ihrem, wenn nicht philosophischen, so doch handlungstheoretischen Werk, die politische Bedeutung dieser Tätigkeiten abzustecken. Gehen wir sie nacheinander durch. Die Seitenangaben bei Arendt-Zitaten beziehen sich auf die Ausgabe der Vita activa im Piper-Verlag (2007).

Die Tätigkeit des Arbeitens

Die Tätigkeit des Arbeitens vergleicht Arendt mit »dem biologischen Prozess des menschlichen Körpers, der in seinem spontanen Wachstum, Stoffwechsel und Verfall sich von Naturdingen nährt, welche die Arbeit erzeugt […], um sie als die Lebensnotwendigkeiten dem […] Organismus zuzuführen«. Notwendigkeit ist das Stichwort. Arbeit ist das, was wir notwendig tun müssen, um zu überleben. So, wie unser Stoffwechsel notwendig ist. Dementsprechend stellt das Leben selbst die Grundbedingung der Arbeit dar. Aber das macht die Tätigkeit des Arbeitens noch zu keiner Bedingung des Menschseins. »[D]en Sklaven und Haustieren« schreibt Arendt die Tätigkeit des Arbeitens zu.1 So verortet sie »das Reich der Freiheit jenseits der Sphäre der Lebensnotwendigkeit«2, und jenseits der Sphäre des Privaten, zumindest mit Blick auf die Geschichte. Über die Antike schreibt Arendt:

Vor der Entdeckung der Intimität hatte es zu den Kennzeichen des Privaten gehört, daß der Mensch in diesem Bereich nicht eigentlich als Mensch [als Person] existierte, sondern als ein Exemplar der Gattung.

S. 58

In Einsamkeit zu arbeiten, mache den Menschen zu einem Animal laborans, »in des Wortes wörtlichster und furchtbarster Bedeutung.«3 Animal laborans, das heißt: Arbeitstier. Ein Mensch, der nur arbeitet (und nie etwas anderes täte, also mit anderen Menschen auf eine Weise interagierte, zu der wir gleich noch kommen), ein solcher Mensch wäre gar kein richtiger Mensch. So lässt sich auch der Begriff von »unmenschlichen Arbeitsbedingungen« verstehen, in Bezug auf 10-Stunden-Schichten am Fließband, ganz ohne soziales Miteinander.

Die Tätigkeit des Herstellens

Die Tätigkeit des Herstellens wäre in der völligen Verlassenheit einer unbewohnten Welt auch nicht das Werk eines menschlichen Wesens, sondern allenfalls eines Schöpfergottes. Platon beschreibt einen solchen als »einzig und einsam, […] befreundet […] allein mit sich selber«.4 Der herstellende Mensch hingegen bedarf des Zusammenlebens unter seinesgleichen, so wie auch die Arbeit erst durch ihre Emanzipation (das heißt, durch die »Besitzergreifung des öffentlichen Bereiches«5) zu einer menschlichen Angelegenheit wird.

Arendt macht den Unterschied zwischen dem Arbeiten und Herstellen im Moment der Verdinglichung fest. Also in dem Moment, wenn ein Ding, ein Gegenstand entsteht. Der Mensch als Animal laborans bringt kaum mehr hervor als die Arbeit selbst, die Bewegung, den Schweiß und allenfalls kurzlebige Konsumgüter zum Lebenserhalt. Der Homo faber hingegen, das ist der herstellende Mensch, der definiert sich über das Werk seiner Hände. Dieses Werk markiert das Ende eines Schaffensprozesses. Menschen, sagt Arendt, sind angewiesen auf »Gegenständlichkeit und Objektivität«, die solche hergestellten Werke verkörpern. Dabei ist der Aspekt der Dauerhaftigkeit wichtig. Die verdinglichte Welt löst sich als eine bleibende Stätte »von der Sterblichkeit der sie Bewohnenden«.6 Nun, Homo faber vermag mit seiner Tätigkeit des Herstellens vielem einen Zweck zu verleihen, sei allerdings »unfähig, Sinn zu verstehen«.7 Was ist es dann, das dem menschlichen Leben einen Sinn gibt?

Die Tätigkeit des Handelns

Die Tätigkeit des Handelns nennt Arendt das Alleinstellungsmerkmal des Menschen. Handeln ist das, was uns vom Tier unterscheidet und selbst vor dem Göttlichen auszeichnet. Diese These verteidigt die Arendt auch mit Verweis auf den griechischen Dichter Homer. In dessen Werken seien die Gottheiten bloß beteiligt an den von den Menschen losgetretenen Handlungen. Auf Homer weist auch Aristoteles zuweilen hin. Dieser Denker hat in der Antike eine Unterteilung vorgenommen, die für die abendländische und auch Arendts Philosophie entscheidend ist. Aristoteles beschrieb zwei »Grundformen menschlichen Handelns«.

Die erste dieser Formen entspricht der Tätigkeit des Herstellens bei Arendt. Aristoteles bezeichnet sie als poiêsis. Diese bringe »ein selbständiges Objekt, ein Produkt, hervor.« Musterbeispiel für diese Tätigkeit sei das Handwerk. Die zweite Form ist die Tätigkeit des Handelns, die als praxis ihr »Ziel im Vollzug des Handelns selbst« habe, so formuliert es Otfried Höffe in seinem Lesebuch zu Aristoteles.8 Als Beispiel nennt er u. a. das Denken. Über das Denken als Tätigkeit schreibt Arendt, es sei so »endlos wie das Leben, das es begleitet, und die Frage, ob es einen Sinn hat zu denken, ist genauso unbeantwortbar wie die Frage, ob das Leben einen Sinn habe.«9

Der Sinn im Selbstzweck

Das führt die Sinnfrage von vorhin auf einen Selbstzweck zurück. Diesen Selbstzweck beurteilt Arendt als durchaus sinnstiftend, wenn nicht für den einzelnen Menschen, so doch für das Gemeinleben. »Da es nun viele Arten des Handelns […] gibt, gibt es auch viele Ziele«10, schreibt Aristoteles, der eine teleologische Weltsicht vertrat. Er nahm also an, hinter allem stehe ein bestimmtes Ziel. Teleologisch heißt, auf ein Ziel (gr. telos) ausgerichtet. Die praxis, also das Handeln, dessen Sinn im Selbstzweck liegt, ist bei Aristoteles »an einen pluralistisch und egalitär verfassten öffentlich-politischen Raum gebunden und vollzieht sich immer in der Anwesenheit von und vor Anderen.«11

Vita activa im öffentlichen Leben

Pluralistisch heißt: die Vielfalt betreffend. Egalitär heißt: Gleichheit anstrebend. Handeln spielt sich also in einem öffentlich-politischen Raum ab, in dem Menschen in all ihrer Vielfalt als Gleiche anerkannt werden. Umgekehrt: Ohne die Gegenwart anderer Menschen ist Handeln nicht möglich. Hier verortet Straßenberger in ihrer Einführung zu Arendt den »ideengeschichtliche[n] und systematische[n] Anknüpfpunkt« für die Denkerin. Arendt definiert das Handeln, ähnlich wie Aristoteles, als »die einzige Tätigkeit […], die sich ohne die Vermittlung von Materie, Material und Dingen zwischen Menschen abspielt«, mit der Pluralität als Grundbedingung.12

Pluralität im Sinne von Vielfalt meint auch das Vorhandensein von Meinungsverschiedenheiten und unterschiedlichen Sichtweisen. Der Austausch von Gedanken ist eine Tätigkeit des Handelns – so, wie Arendt sie bestimmt hat. Das Besondere am Handeln ist, dass allein diese Tätigkeit dazu im Stande ist, im ewigen Kreislauf des Lebens einen Anfang zu setzen. Was damit gemeint ist, dazu mehr im Beitrag Der Sinn des menschlichen Lebens – wieder in Auseinandersetzung mit Arendts Werk Vita activa.

Hinweis: Hier geht’s zum Literaturverzeichnis.

Fußnoten

  1. Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 99.
  2. Henning Ottmann: Platon, Aristoteles und die neoklassische politische Philosophie der Gegenwart, auf: Information Philosophie. Zugriff 11.03.20.
  3. Hannah Arendt: Vita activa, S. 33.
  4. Vgl. Platon, Timaios 112, Zugriff 11.03.20.
  5. Hannah Arendt: Vita activa, S. 157.
  6. Vgl. Ebd., S. 16ff.
  7. Vgl. Ebd., S. 184.
  8. Vgl. Otfried Höffe: Aristoteles: Die Hauptwerke. Ein Lesebuch, S. 288f.
  9. Hannah Arendt: Vita activa, S. 206.
  10. Aristoteles: Nikomachische Ethik, 1094a1.
  11. Grit Straßenberger: Hannah Arendt. Eine Einführung, S. 61.
  12. Vgl. Hannah Arendt: Vita activa, S. 17.

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