Die Zerstörung des politischen Lebens

In diesem Beitrag geht es um die Zerstörung des politischen Lebens. Das klingt polemisch, soll hier aber eher philosophisch thematisiert werden, in Anlehnung an das Werk Vita activa von der politischen Theoretikerin Hannah Arendt. Darin werden die Tätigkeiten des menschlichen Lebens erläutert: das Arbeiten, Herstellen und Handeln. Im Folgenden geht es auf Grundlage dieser Tätigkeiten darum, worin Arendt die Zerstörung des politischen Lebens sah und was uns das über die Gegenwart lehrt.

Auf YouTube ist dieser Beitrag als Video verfügbar.

Was ist Politik?

Zuerst wenden wir uns einem Text aus dem Nachlass von Arendt zu, über einen hier zentralen Begriff. Der Text stammt aus dem Jahr 1950 und trägt den Titel: Was ist Politik? Er beginnt mit dem Satz: »Politik beruht auf der Tatsache der Pluralität der Menschen.« Das heißt: Weil es viele von uns gibt (Plural), haben und brauchen wir Politik. Die sieht Arendt bei Philosophie-Größen wie Platon eher nachrangig behandelt, ohne den nötigen Tiefsinn: »Der fehlende Tiefsinn ist ja nichts anderes als der fehlende Sinn für die Tiefe, in der Politik verankert ist.«1

Hinweis: An Tiefsinn mangelt es auch diesem Beitrag, der Arendts Gedanken nur grob anschneiden kann. Zur tieferen Beschäftigung empfehle ich die direkte Lektüre ihrer Schriften, die in schicken Neuausgaben überall erhältlich sind, wo’s schlaue Bücher gibt – das gilt sowohl für Vita activa, als auch für Was ist Politik?

Arendts Definition von Politik

Politik handelt vom »Zusammen- und Miteinander-Sein der Verschiedenen«. Den Menschen schreibt Arendt eine absolute Verschiedenheit zu. Wir alle sind absolut verschieden. Daran soll die Politik auch nicht rütteln. Sie organisiere vielmehr »die absolut Verschiedenen im Hinblick auf relative Gleichheit und im Unterschied zu relativ Verschiedenen.« Politik ist, einfach gesagt, die Sorge um die Welt als Lebensraum. »Und eine Welt ändert man so wenig dadurch«, schreibt Arendt, »daß man die Menschen in ihr ändert […], wie man eine Organisation oder einen Verein dadurch ändert, daß man seine Mitglieder anfängt, so oder anders zu beeinflussen.« Stattdessen seien es die Verfassung oder die Gesetze, die geändert werden müssten. Gefolgt von der Hoffnung, »daß alles andere sich von selbst ergeben werde.«

Überall, wo Menschen zusammenkommen [entsteht] ein Raum, der sie in sich versammelt und zugleich voneinander trennt. Jeder dieser Räume hat seine eigene Strukturiertheit, die sich im Wandel der Zeiten wandelt.

Arendt: Was ist Politik?, S. 25

Arendts Bezugsgewebe

Ein neuer Raum, der sich gen Ende von Arendts Jahrhunderts auftat und seitdem gewaltig wandelt, ist das Internet. Dessen Bedeutung als öffentlicher Raum und Funktion als soziales Netz wird gerade in Zeiten der Coronakrise nur allzu deutlich. Das World Wide Web ist eine virtuelle Erweiterung vom »Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten«. So nennt Arendt den Erscheinungsraum, in dem Menschen miteinander in Aktion treten. Dieses Bezugsgewebe ist das, was wir Geschichte (history) nennen, gestrickt aus vielen Einzelgeschichten (stories). Mehr dazu im Beitrag über den Sinn des menschlichen Lebens.

Nun, worin liegt die Zerstörung des politischen Lebens? In Vita activa schreibt Arendt über die Bedeutung von Lebensgeschichten, Biografien. Während sie alle Grundtätigkeiten des menschlichen Lebens – das Arbeiten, Herstellen und Handeln – an die Bedingung des Geborenwerdens knüpft, gilt dies für die Tätigkeit des Handelns ganz besonders. Denn in der Geburt vollziehe sich der Übergang »von der Physiologie zur Biographie«.2 Dabei stellt die Geburt ein einmaliges Ereignis dar, das sich auch durch die Anpassung an einen neuen Kulturkreis nicht wiederholen lässt.3

Diese Einmaligkeit unterstreicht die Bedeutung von Handeln und Erzählung für das menschliche Leben bei Arendt: Die einzelne Geschichte lenkt den Blick vom abstrakten Wesen des Menschen auf das Wirken eines Menschen und gibt Antwort. Nicht auf die philosophisch-anthropologische Frage, was der Mensch sei, sondern auf die pragmatisch-sozialphilosophische Frage: wer wir sind. Besagtes Bezugsgewebe aber, unser aus miteinander verflochtenen Handlungen gestricktes Netz namens Geschichte, das ist in Gefahr; und damit auch das »wer«, also das, was uns einzelne Menschen überhaupt ausmacht.

Die Angst vor der Vielfalt

»Der Versuch, der Pluralität Herr zu werden«, stellt Arendt klar, sei »gleichbedeutend mit dem Versuch, die Öffentlichkeit überhaupt abzuschaffen.«4 Kurz zum Kontext: Arendt schrieb Vita activa vor dem Hintergrund der aktiven Mitwirkung von US-Bürger*innen am öffentlichen Leben. Ihr Buch erschien in den 1950er Jahren, in der Hochphase des Civil Rights Movement. Das war eine soziale Bewegung, die sich für eine Abschaffung der Rassentrennung in den USA stark machte, mit Erfolg. Dass die (theoretische) Gleichberechtigung kein Ende der Gewalt gegen Schwarze brachte, das zeigen Bewegungen wie Black Lives Matter in unserer Zeit. Heute führen Hashtags in sozialen Medien solche Bewegungen mit an, und manch Mensch mag sich von der Menge und Vielfalt an Meinungen (kurz: von der Pluralität) überrumpelt fühlen.

Tipp: Um Rassismus und Gewalt gegen Schwarze geht’s in dem Musikvideo This Is America.

Und daher, von dieser Angst vor der Pluralität, rührt die Gefahr.  Nehmen wir ein Beispiel besagtem Internet als Erweiterung des Erscheinungsraums, in dem sich Menschen begegnen. Natürlich ist nicht jede Ecke des Webs ein solcher Erscheinungsraum im Sinne Arendts. Es geht um die Ecken, in denen Menschen als Handelnde und Sprechende miteinander interagieren oder kommunizieren. Was einen solchen Erscheinungsraum ausmacht, ist Macht.

Die Macht im Miteinander

Das Zustandekommen von Macht ist abhängig von einem Miteinander, in dem sich Menschen als Handelnde beteiligen; nicht im bloßen Zusammenleben von Menschen, die des Handelns fähig sind, sich jedoch mit Tätigkeiten des Arbeitens und Herstellens begnügen. Nicht nur in der teils versklavten, teils unmündigen Haushaltsgemeinschaft der Antike sieht Arendt ein machtloses Miteinander, sondern auch in der »nur auf ihren Lebensunterhalt bedachten, erwerbstätigen Bevölkerung« der Moderne.5 Unter Macht versteht Arendt nicht die durch Recht auf Bestrafung gestützte »Entscheidungskompetenz politischer Führer, sondern zuvorderst die Handlungsfähigkeit […], sich mit Anderen zusammenzuschließen, um ein gemeinsames Anliegen zu verfolgen«.6

Ein Beispiel für die Flüchtigkeit und Spontaneität einer so definierten Macht zeigte sich 2019 vor der EU-Wahl, als ein YouTube-Video im Wahlkampf mitmischte. Schon Jahrzehnte vorher stellte Arendt fest, was passiert, wenn wir versuchen »die Mühsal des Arbeitens« zu überwinden: Die Folge sei, »daß auch das Herstellen sich jetzt in Form eines Arbeitsprozesses vollzieht.«7 Sie bemerkt, dass »die überschüssige Zeit des Animal laborans (des bloß arbeitenden Menschen) […] niemals für etwas anderes verbraucht [wird] als Konsumieren«. Und wer kümmert sich dann ums Konsumgut? Homo faber, der herstellende, künstlerische, schaffende Mensch! Wenn dieser sich in den Dienst des Konsums stellt, wird »die Kultur zum Zwecke der [Massenunterhaltung] mißbraucht«.8

Na, wenn das nicht voll auf unser Streaming-Zeitalter zutrifft. Im Konkurrenzkampf um die watch hours eines Hundertmillionen-Publikums rekrutieren Netflix & Co. ganze Heerscharen von Homo faber, von denen sich nicht wenige als Kunstschaffende ansehen, um Konsumgüter zu liefern. Die Ereignishaftigkeit von Kinofilmen und Musikalben löst sich auf im Kreislauf von Upload, Abruf und Nachschub – ein demokratisierter Kreationsprozess, in den jedes motivierte Mitglied der Konsumgesellschaft einsteigen kann. Etwa mit dem Herstellen von YouTube-Videos.

Die Zerstörung des politischen Lebens

Was geschieht nun, wenn einer dieser Homo faber einen Willen zum Handeln entwickelt? Wenn ein YouTuber, der sonst mit der Herstellung von Musik- und Spaßvideos amüsierte Massen versorgt und damit seinen Lebensunterhalt verdient, auf einmal als Mensch in Erscheinung tritt, der handelnd tätig wird?

Als der Webvideo-Produzent Rezo im Mai 2019 den Beitrag Die Zerstörung der CDU veröffentlichte, wurde direkt die Zweck-Mittel-Kategorie auf diese Tat angewandt – als sei das Video ein Ding, wie es so viele andere Videos sind. Sobald klar war, dass es sich um ein nicht monetarisiertes Video handelte – Rezo damit also kein Geld verdiente – verlagerte sich die Zweck-Suche auf die Idee, der Beitrag diene als indirektes Mittel für die Stärkung der Marke des YouTubers oder dessen Instrumentalisierung durch eine Partei.

Arendt würde hier womöglich eine »Unfähigkeit diagnostizieren, den Unterschied zwischen dem Nutzen und dem Sinn einer Sache zu verstehen.«9 Dass Rezos Video ein Akt des Handelns war, zeigt sich im Zustandekommen von Macht – und im Machtvakuum auf Seiten der vermeintlich Mächtigen. »Wo Macht nicht realisiert, sondern als etwas behandelt wird, auf das man im Notfall zurückgreifen kann«, schreibt Arendt, da »geht sie zugrunde«. Die Geschichte sei voll von Beispielen. Eine CDU-Vorsitzende, die als politische Führerin andeutet, in Zukunft ihre Entscheidungskompetenz walten lassen zu wollen, und ein YouTuber, der sich mit Anderen zusammenschließt, um ein gemeinsames Anliegen zu verfolgen, reihen sich in die Macht-Geschichte ein.

Realisierte Macht sei gegeben, so Arendt, wenn »Worte nicht mißbraucht werden, um Absichten zu verschleiern, sondern gesprochen sind, um Wirklichkeiten zu enthüllen, und wo Taten nicht mißbraucht werden, um […] zu zerstören.«10 Insofern hätte Arendt den Titel von Rezos Video wohl nicht ganz so passend gefunden.

Arendt über Gehorsam

In ihrem Buch über die Banalität des Bösen (Eichmann in Jerusalem, 1963) wandte sich Arendt einmal direkt an den SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, der in den 1960er Jahren vor Gericht stand und sich auf seinen Gehorsam gegenüber den Vorgesetzten berief.

Wenn Sie sich auf Gehorsam berufen, so möchten wir Ihnen vorhalten, daß die Politik ja nicht in der Kinderstube vor sich geht und daß im politischen Bereich der Erwachsenen das Wort Gehorsam nur ein anderes Wort ist für Zustimmung und Unterstützung.

Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem, S. 404

Eine Diktatur funktioniert nur, wenn die Leute sich ihre Werte und Normen diktieren lassen. Eine Demokratie wiederum funktioniert nicht, wenn wir uns unsere Werte und Normen diktieren ließen. Stattdessen wählen wir die Menschen in politische Ämter, die unsere moralischen Werte am ehesten vertreten und mit entsprechenden Normen festigen und verteidigen. Wenn es um Fragen der Moral geht, sollten wir uns nie auf höhere Instanzen berufen, sondern müssen den eigenen Verstand gebrauchen.

Menschen, die nur deshalb nicht töten, weil Gott das sagt, haben etwas zutiefst Verstörendes und Gefährliches an sich. Solche Menschen sind eher durch Gehorsam als durch Mitgefühl motiviert.

Yuval Noah Harari: 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert, S. 321

Aufklärung als Hobby

Ähnliches gilt für Menschen, die ein Wahlkreuz setzen, weil ein YouTuber das sagt. Dieses Argument war im Zuge der Rezo-Debatte öfter mal zu hören. Doch während die Berufung auf Gott für ein Dogma steht (ein fixes Weltbild, das wir nicht ändern wollen) stand die Berufung auf Rezo für die Ratio. Das heißt: für die vernunftgeleitete Beschäftigung mit einer Sachlage, um sich über bestimmte Dinge ein Urteil bilden zu können.

Ethik-Unterricht ist heute wichtig wie eh und je. Wir leben in einer Gesellschaft, in der Menschen das »sich Beschäftigen mit einer Sachlage« und infolgedessen das »Urteil bilden« für andere gerne mit-übernehmen. Das lässt sich als schöner Effekt einer aufgeklärten Gesellschaft interpretieren, in der die Aufklärung selbst zum ambitionierten Hobby wird. Ich bin da als Blogger und Content Creator selbst mit ihm Boot – und habe auch schon die Kritik gehört: Schön und gut, dass du dir eine Meinung bildest, aber musst du sie im Internet heraus posaunen?

An dieser Stelle sei noch einmal kurz die Tätigkeit des Handelns erläutert. Wichtig für Arendt ist, dass Handeln und Sprechen nicht im rein Privaten stattfinden. Ein Mensch, der daheim den Fernseher anmotzt, nimmt nicht am sozialen Miteinander teil. Handeln und Sprechen vollzieht sich nur im Austausch mit anderen Menschen (Stichwort: Bezugsgewebe). Somit ist die öffentliche Kundgabe einer eigenen Meinung im Internet etwas spezifisch Menschliches. Etwas, das uns zu Menschen macht. Immer vor dem Hintergrund, dass keiner Meinung und keinem Menschen dabei blind Gehorsam zu leisten sind.

Fazit und Aufruf

Die Zerstörung des politischen Lebens beginnt da, wo Menschen daran gehindert werden, nicht nur als (zum Beispiel) kreative Schaffende tätig zu sein, sondern auch als denkende, handelnde und sprechende und damit politische Menschen. In diesem Sinne: Immer schön fair und höflich bleiben, wenn auch Leute ohne politisches Mandat mal Meinungen zu politischen Themen äußern. Politik ist ja, mit Arendt gesprochen, bloß die Sorge um die Welt als unser aller Lebensraum.

Zum Literaturverzeichnis.

Fußnoten

  1. Hannah Arendt: Was ist Politik?, S. 9. Die Seitenzahl bezieht sich auf dieses PDF.
  2. Julia Kristeva: Das weibliche Genie: Hanna Arendt, S. 85.
  3. Vgl. ebd., S. 114.
  4. Vgl. Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 279.
  5. Vgl. ebd., S. 250ff.
  6. Grit Straßenberger: Hannah Arendt. Eine Einführung, S. 67.
  7. Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 293.
  8. Ebd., S. 157.
  9. Ebd., S. 182f.
  10. Ebd., S. 252.

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