Iris Marion Young (1949-2006) war eine Politikwissenschaftlerin und Feministin mit Fokus auf soziale Differenzen und gelebte Gerechtigkeit. Eines ihrer meist-zitierten Essays trägt den Titel: Werfen wie ein Mädchen. Erstmals veröffentlicht im Jahr 1980, bezieht sich dieser Beitrag auf die deutsche Fassung des Essays.1 In dem Text stellt Young die These auf, Frauen seien in sexistischen Gesellschaften körperlich behindert (S. 722). Im Folgenden soll Youngs Heranführung an diese These kurz erläutert werden.
Werfen wie ein Mädchen
Zunächst ein Blick in den Primärtext. 📄 In den ersten paar Sätzen ihres Essays Werfen wie ein Mädchen rezitiert Young den Neurologie, Psychiater und Philosophien Erwin Straus. Sie schreibt:
Erwin Straus stolpert bei der Diskussion der grundlegenden Bedeutung der lateralen Raumausdehnung, die eine einzigartige durch die aufrechte menschliche Haltung hervorgebrachte räumliche Ausdehnung darstellt, über den »bemerkenswerten Unterschied in der Art des Werfens bei den beiden Geschlechtern«. Um dies zu belegen, führt er eine Untersuchung und Photographien junger Mädchen und Jungen an und beschreibt den Unterschied folgendermaßen:
»Das fünfjährige Mädchen nutzt den lateralen Raum überhaupt nicht. Sie streckt ihren Arm nicht seitwärts aus; dreht ihren Rumpf nicht; bewegt ihre Beine nicht, sie bleiben nebeneinander stehen. Alles, was sie tut, um den Wurf vorzubereiten, ist, den rechten Arm nach vorne in die Horizontale zu heben und den Unterarm nach hinten in eine nach vorne gebeugte Position zu bringen … Der Ball fliegt ohne Kraft, Geschwindigkeit und exakte Zielgebung los … Bereitet ein Junge desselben Alters einen Wurf vor, so streckt er seinen rechten Arm seitwärts und nach hinten aus; nimmt den Unterarm zurück; dreht, wendet und beugt den Rumpf; stellt den rechten Fuß zurück. Aus dieser Position heraus vermag er seinen Wurf mit der Kraft fast des ganzen Körpers zu unterstützen…« | Weiterlesen
Woher rührt der hier beschriebene Unterschied zwischen den Wurftechniken von Jungen und Mädchen? 🧒🏼 👧🏽 Als Vertreterin des Existentialismus – und dessen Prämisse: die Existenz geht der Essenz voraus – geht Young mit Beauvoir gesprochen davon aus, dass es keine »weibliche Essenz« gibt. Besagter Unterschied sei nicht mit Besonderheiten der Anatomie zu erklären, sondern vielmehr mit der weiblichen Existenz. (Oder, mit Beauvoir: »Situation«.) Zur Erläuterung zieht Young in Werfen wie ein Mädchen den Körper-Begriff des französischen Phänomenologen und Philosophien Maurice Merleau-Ponty heran.
Die »weibliche Körperexistenz«
Merleau-Ponty definiert den Körper als in die Welt hineinwirkende Transzendenz, immer in der Umsetzung von Absichten begriffen. Die daraus folgende »zweckgerichtete Orientierung des Körpers« (S. 710) sei es, die das Subjekt in seiner Beziehung zur Welt bestimme. Dieser Überzeugung folgend, legt Young eine Auffassung »weiblicher Körperexistenz« dar. Sie treffe nicht auf jede Frau im Einzelnen zu, sondern auf die Frau im Allgemeinen (711) und ergänzt besagten Körperbegriff um bestimmte Modalitäten. Dabei liegt der Fokus auf der weiblichen Körperhaltung und Fähigkeit zur aktiven Bewegung, auch in Bezug auf Räumlichkeit. Dass sich die Frau in Bewegungsabläufen und Raumnutzung vom Mann unterscheidet, sei insbesondere beim Werfen zu beobachten. Die Redewendung vom »Werfen wie ein Mädchen« rührt daher, dass Mädchen und Frauen ihren Körper weniger zielführend einsetzen, um ein Objekt zu werfen.
Young zufolge ist diese Beobachtung nicht auf phänotypische Unterschiede wie Muskelkraft zurückzuführen. Sondern darauf, dass die Frau sich selbst als Objekt sieht und gesehen wird – in einer sexistischen Gesellschaft. Eine solche trage dazu bei, dass Frauen in der Konsequenz der mangelnden Übereinstimmung ihrer Existenz als Subjekt und Objekt körperlich behindert seien. Grundlegend zum Verständnis von Youngs These sind Beauvoirs Ausführungen zur »Situation« der Frau, die historisch, kulturell, sozial anders geprägt ist, als die des Mannes (780f.). Aus dieser von der Kindheit an erlebten Andersartigkeit ergibt sich eine geforderte, gefühlte und gelebte »Immanenz« der Frau, die Beauvoir vielfach belegt.
Tipp: Hier geht es zum Beitrag über das biologische und das soziale Geschlecht, in Anlehnung an Simone de Beauvoir. Darin gehen wir dem Mythos vom »schwachen Geschlecht« auf den Grund.
Sozialisation in einer sexistischen Gesellschaft
Vor diesem Hintergrund mutet Youngs Argumentation folgerichtig an. Von klein auf anders sozialisiert, gewöhnt sich das Mädchen früh an, ihren Körper nicht nur als Werkzeug des Wirkens auf die Welt wahrzunehmen, sondern als Objekt der Wahrnehmung anderer Mitmenschen. Während der Fokus des Jungen darauf liegt, den Ball zu werfen, ist die Aufmerksamkeit des Mädchens geteilt. Das führt zu schlechteren Würfen, was zu Misstrauen in die eigene Wurffähigkeit führt, was zu mangelnder Übung führt. Und (die richtige) Übung ist bekanntlich alles.
Von einer körperlichen Behinderung zu sprechen, erscheint gerechtfertigt, da sich dieser Effekt – nachweislich auf die Sozialisation in einer sexistischen Gesellschaft zurückführbar – nicht durch eine andere »Einstellung« aufhebt. Bewegungsabläufe sind nicht einfach umzudenken. So, wie ich als Linkshänder nicht mit rechts schreiben kann (was die gegenwärtige Gesellschaft mich »durchgehen« lässt, während ältere Verwandte noch umgeschult wurden ✍🏻 – und heute schreiben wie Kinder).
Nun bezog sich Beauvoir auf die Gesellschaft der 1940er Jahre. Youngs Text entspringt den 1980er Jahren. Inzwischen sind wir wieder ein solches Intervall weiter, mit deutlichen Fortschritten, einerseits. Andererseits… Wie Beauvoir wohl ein Ü-Ei für Mädchen schmecken würde? Zu guter Letzt hier noch ein schönes Schlusswort von Gilbert Dietrich, der sich auf seinem Blog Geist und Gegenwart ebenfalls mit Youngs Essay auseinandergesetzt hat. Hier geht es zu dem lesenswerten Beitrag.
Gut, dass wir uns heute – ob Mann oder Frau – weniger aufs Werfen, als auf Reden, Schreiben und andere kognitive Fähigkeiten konzentrieren können. Die Unterschiede, die wir dabei sehen, gehen weniger durch die Geschlechter, als durch die Kulturen und die Individuen. Wir brauchen diese Diversität. Bei allen Unterschieden scheint aber auch klar zu sein, dass wir Menschen – ob Mann oder Frau – in unseren Möglichkeiten so sehr offen sind, dass wir mit dem richtigen Training zur richtigen Zeit alle möglichen komplizierte Abläufe erlernen können.
Gilbert Dietrich
Kommentar zu Werfen wie ein Mädchen
Zu einer älteren Version dieses Beitrags hinterließ eine Leserin namens Christina einen Kommentar. Darin schildert sie ihre persönlichen Erfahrung zu dem Thema, das Young in dem Essay Werfen wie ein Mädchen behandelt. Hier der Kommentar:
Vielen Dank für diesen wichtigen Blogeintrag. Es mag für manche vielleicht schwer nachvollziehbar sein oder als »Jammern« gelten, aber auch ich merke so viele Dinge, die mich als Frau beschränken. Ich kann mich noch gut daran erinnern, als ich als etwa 12-Jährige angefangen habe, mich für meine Beinbehaarung zu genieren. Niemand hätte auch nur etwas darüber gesagt, ich selbst merkte aber, dass ich mich vor dem öffentlichen Schwimmbad-Besuch zu rasieren hatte. Ich bin sehr sportlich, aber auch dabei merke ich, wie sehr ich mich zurücknehme, nicht zu aggressiv oder zu motiviert aufzutreten, weil ich nicht anecken will. Auch ist es für mich immer noch eine sehr große Überwindung, ohne BH an öffentliche Orte zu gehen, einfach weil ich mir »nackt« und unpässlich vorkomme, obwohl manche Männer mehr Busen haben als ich.
Rollenmuster brechen, Sensibilität schaffen
Mir sind diese Feinheiten im Laufe der Jahre immer bewusster geworden und ich weiß noch nicht, ob ich sie als Einschränkung oder als Befreiung erlebe. Ich versuche so zu sein, als wäre ich ein Mensch, der nicht von den Urteilen und Blicken anderer abhängig ist. Das spiele ich aber nur (mauvaise-foi) und fühle mich ob dieser Reflektiertheit doppelt gelähmt. Ich spiele bewusst mit Gender-Rollen, obwohl ich im Erscheinungsbild sehr feminin aussehe. Dennoch bin ich nicht davor gefeit, anzuecken, wenn mein Stiefvater beispielsweise meint, ich gehe wie ein Mann. Aha. Was auch immer das bedeuten soll? Raum-einnehmender? Lässiger? Langsamer?
Ich denke auch, dass der Körper einer Frau mehr Risiken mit sich bringt, bestimmte psychische Probleme zu entwickeln, als der Körper eines Mannes (Existenz vor Essenz). Mich macht das alles zusammen sehr wütend und versuche aktiv stereotype Rollenmuster zu durchbrechen und eine Sensibilität für unsere eingelernten Muster zu schaffen.
Fußnoten
- Iris Marion Young: Werfen wie ein Mädchen. Eine Phänomenologie weiblichen Körperverhaltens, weiblicher Motilität und Räumlichkeit. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Band 41, Heft 4, 707-725.