In diesem Beitrag geht es um die Wende von der Mythologie zur Philosophie. Dazu betrachten wir zunächst einige Mythen, am Beispiel von Hesiod, Homer und Sappho, drei griechische Größen der Dichtkunst, die im 8. und 7. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung lebten. Danach verlagert sich der Fokus auf die Naturphilosophie der Vorsokratiker – und damit auf die Geburtsstunde der abendländischen Philosophie zu Beginn der Antike.
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Die Funktion der Mythen
Ein Mythos ist eine sagenhafte Erzählung. Viele Mythen zusammen bilden die Mythologie einer bestimmten Kultur oder Volksgruppe. Daher sprechen wir heute etwa von der nordischen Mythologie als Gesamtheit aller Mythen aus Skandinavien. Bevor sich die christliche Mythologie mit ihrem einen Gott dort breit machte, gab es im Norden zahlreiche Gottheiten, von denen Thor wohl der bekannteste ist – der Donnergott, nach dem auch der Donnerstag benannt ist.
Thor hat den Sprung von den Mythen in die Marvel-Filme geschafft. Doch während die Thor-Abenteuer der Gegenwart den Einen zur Unterhaltung und den Anderen zum Geldscheffeln dienen, kam den Mythen in der Vergangenheit eine viel grundlegendere Funktion zu – und zwar eine sinnstiftende.
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Stell dir ein kleines Volk vor, das mitten in der Natur lebt, ohne je Naturkunde-Unterricht gehabt zu haben. Wenn entsprechende Kenntnisse fehlen, wirkt nicht nur das Wetter launisch, sondern auch das Wachstum der Pflanzen zum Beispiel. Du steckst ein Korn in die Erde und daraus wird Grünzeug – wie funktioniert das? Du bist schön, ich geh’ der Sache auf den Grund und dein Bauch wird rund – aber warum? Woher kommen die Kinder und das Leben und alles?
Die Anfänge der Mythen
Immanuel Kant definierte (wie im Beitrag über Metaphysik zitiert) den Menschen als ein Wesen, das sich Fragen stellt, die es nicht beantworten kann. Kurzum: philosophische Fragen. Doch bevor der Mensch ein philosophisches Denken entwickelte, gab er darauf eine mythische Erklärung, die so oft erzählt wurde, bis andere Menschen sie als Wahrheit annahmen: Wetter, Wachstum und das Wunder des Lebens – dahinter steckt, vielen Mythen zufolge, göttlicher Wille.
Wer sich wann die ersten Geschichten ausdachte, diese Anfänge bleiben im Dunkeln. Vielleicht im Dunkeln jener Höhle im Lonetal, wo der Löwenmensch gefunden wurde. Das ist eine Holzskulptur, halb Mensch, halb Raubkatze, eines der ältesten Kunstwerke überhaupt. Schwer vorstellbar, dass irgendwer diese Kreatur schnitzte, ohne sich damals schon Geschichten dazu erzählt oder auch nur gedacht zu haben – vor rund 40.000 Jahren.
Die griechische Mythologie
Die längste Zeit über wurden Mythen mündlich überliefert, von einer Generation zur nächsten. Dass wir heute noch so viel über die griechische Mythologie wissen, ist unter anderem Hesiod, Homer und Sappho zu verdanken – erstere schrieben Geschichten über Gottheiten auf, letztere schrieb Lyrik über sie. Damit wandern wir vom Norden Europas in den Süden. Mythen gab’s übrigens überall dort, wo es die Menschen hinzog.
Hesiod und Homer
Hesiod war ein Hirte, der sich für das Dichten begeisterte. Er schrieb etwa die Theogonie, eine Erzählung über die Entstehung der Welt und der Gottheiten, die sie bewohnen und beherrschen. Eine Schöpfungsgeschichte also – die liest sich so:
Zuerst nun war das Chaos, danach die breitbrüstige Gaia, niemals wankender Sitz aller Unsterblichen, die den Gipfel des beschneiten Olymps und den finsteren Tartaros bewohnen […]; weiter entstand Eros, der schönste der unsterblichen Götter, der gliederlösende, der allen Göttern und Menschen den Sinn in der Brust überwältigt […]
Hesiod: Theogonie
Tipp: Mehr dazu in weiterführenden Beiträgen über Schöpfungsgeschichten und über Hesiods Theogonie.
Homer hingegen schickte den Helden Odysseus auf eine Reise mit göttlicher Einmischung. Bei dieser Odyssee handelt es sich um eines der bekanntesten Schriftwerke der Geschichte. Obwohl vor rund 2700 Jahren geschrieben, wirkt es sich noch gewaltig auf die heutige Zeit aus – etwa als Inspiration für Ulysses von James Joyce, einer der wichtigsten Romane des vergangenen Jahrhunderts, oder für den Film O Brother, Where Art Thou? mit George Clooney. Mehr über die Odyssee im Beitrag über Homer.
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Schon die Menschen zu Beginn der Antike, rund ums Jahr 600 vor unserer Zeitrechnung, kannten die Werke von Hesiod und Homer und wurden in ihrem Denken von diesen beeinflusst.
Sappho und die Nachwelt
Die Lyrikerin Sappho, die etwas später als Hesiod und Homer lebte und ihrerseits über göttliche Gestalten wie Aphrodite und Eros schrieb, ist heute etwas weniger bekannt als besagte Herren. Das liegt nicht zuletzt daran, dass ein Großteil ihres Gesamtwerks verschollen ist. Zuletzt wurde erst 2014 ein Gedicht von Sappho wiederentdeckt.
»Hätten wir noch die sämtlichen sapphischen Gedichte«, das schrieb der Kulturphilosoph Friedrich Schlegel einmal über die Brillanz dieser Lyrikerin, »vielleicht würden wir nirgends an Homer erinnert.« In diesem Sinne, hier die erste und letzte Strophe aus Sapphos Ode an Aphrodite, die Göttin der Liebe:
Bunten Thrones ewige Aphrodite, / Kind des Zeus, das Listen flicht, ich beschwör dich, / nicht mit Herzweh, nicht mit Verzweiflung brich mir, / Herrin, die Seele. / Komm zu mir auch jetzt; aus Beschwernis lös mich, / aus der Wirrnis; was nach Erfüllung ruft in / meiner Seele Sehnen, erfüll. Du selber / hilf mir im Kampfe.
Sappho: Ode an Aphrodite
Dass Mythen immer noch in Mode sind, davon zeugt etwa das Büchlein Mythen des Alltags von Roland Barthes – aber das ist auch schon wieder über 50 Jahre alt. Etwas aktueller zeigt Yuval Noah Harari in Eine kurze Geschichte der Menschheit auf, wie Mythen die Institutionen und Unternehmen der Gegenwart zusammenhalten. Das macht er in einem coolen Bogenschlag von jenem Löwenmenschen im Lonetal hin zur Firmengeschichte des KFZ-Herstellers Peugeot, dessen Logo bekanntlich ein Löwe ist. (Hier geht es zur Buchkritik.)
Die Vorsokratiker · vom Mythos zum Logos
Quasi-philosophische Fragen setzten sich, wie wir gesehen haben, seit jeher mit der Natur auseinander. Kein Wunder, denn die Natur war es stets, die den Menschen von allen Seiten umgab – alles stand mit ihr im Zusammenhang. Daher überrascht es nicht, dass die älteste Form der Philosophie eben die Naturphilosophie ist und nicht etwa Rechtsphilosophie (wobei die auch nicht lange auf sich warten ließ).
Hinweis: Auf YouTube ist ein Beitrag über die Naturphilosophie der Vorsokratiker als Video verfügbar.
Der Definition nach handelt es sich bei Naturphilosophie um die Begründung und Reflexion der Prinzipien, die der Natur zugrunde liegen. Prinzipien also, die zum Beispiel das Wachsen von Biomasse oder den Wechsel von Jahreszeiten erklären. Über zahllose Generationen hinweg hielten Geschichten über Gottheiten als Erklärungen her. Es donnert, weil der Donnergott Thor in seinem Wagen vorbeirollt. Doch dann kamen die Vorsokratiker.
Naturphilosophie der Vorsokratiker
Die Vorsokratiker waren die ersten Menschen, von denen wir wissen, die eine Erklärung der Natur nicht vom Mythos (also einer Erzählung) her versucht haben, sondern vom Logos aus. Diesem Begriff haften in der Philosophie viele, zuweilen einander ähnliche Bedeutungen an, wobei sich »Logos« in diesem Fall mit »Vernunft« übersetzen lässt. Das heißt, die Vorsokratiker versuchten, die Prinzipien der Natur auf eine Weise zu erklären, die unserem Verstand, unserem rationalen, vernünftigen Denken logisch erscheint. Dabei suchten sie nach Elementen oder Energien innerhalb der Natur, die anderen vorausgehen – oder gar am Anfang von allem stehen.
Die drei Herren von Milet
In der Zeit der Vorsokratiker herrschte ein Zustand, der den Philosophen Platon später zu einem netten Vergleich veranlasste (Platon war ein Nachsokratiker, but that’s not a thing). Die Griechen, schrieb er, säßen ums Mittelmeer verteilt wie Frösche um einen Teich. Tatsächlich gab’s rund um die mediterrane Küste, vom heutigen Spanien bis zur Türkei, über 100 griechische Siedlungen und Städte. Dazu gehörte auch Milet, eine griechische Polis, also eine Bürgergemeinde um einen städtischen Siedlungskern. Milet lag nahe der heutigen, türkischen Stadt Izmir.
Aus dieser Polis stammt Thales von Milet, der bekannteste aus einer Liste vorsokratischer Namen, die Platon als die »Sieben Weisen« bezeichnete.
Thales gilt heute als der Begründer der griechischen Naturphilosophie und damit aus europäischer Perspektive als erster Philosoph überhaupt. Zumindest der erste, von dem wir dank Überlieferungen noch wissen – womit die abendländische Philosophie ihren Ursprung demnach gar nicht im heutigen Griechenland hat, sondern in Kleinasien.
Aus Milet stammen mit Anaximenes und Anaximander noch zwei weitere wichtige Naturphilosophen der ersten Stunde, die sich etwa mit der Suche nach dem Urstoff beschäftigten.
Die Suche nach dem Urstoff
Für Thales bildete Wasser den Urstoff, aus dem alles andere hervorgegangen sein soll. Das war eine Idee, die es auch in der Mythologie schon gab – etwa bei Homer, wobei der mit Okeanos als dem »Ursprung von allem« eben noch einen Flussgott an die erste Stelle setzte, Thales wiederum meint das Element Wasser. Anaximenes erklärte die Luft zum Urstoff und Anaximander wiederum das »Un-Begrenzte«. Andere Vorsokratiker suchten nicht nach einem Urstoff, sondern einer Urkraft oder Urfunktion.
Am bekanntesten ist Heraklit mit seinem Grundsatz, dem berühmten Zitat »pantha rhei« (»Alles fließt«). Im vorhin genannten Logos entdeckte Heraklit eine Art allgemeines Gesetz, das alles erschafft, ordnet und vorherbestimmt – seine Auslegung vom Logos-Begriff wurde später von der Stoa übernommen, dazu mehr im Beitrag über Epikureismus und Stoizismus. Heraklits Meinung nach befand sich die Welt in einem ständigen Werden und Wandel.
Zu guter Letzt sei hier Demokrit genannt, der zwar bereits ein Zeitgenosse von Sokrates war, seinem Denken nach aber den Vorsokratikern zugerechnet wird, als letzter namhafter Naturphilosoph. Demokrit stimmte Heraklit zu, dass alles »im Fluss« sei, doch er bestand auch auf kleinste und ewige Teilchen, aus denen sich die Welt zusammensetzt. Diese Teilchen nannte er Atome, was ihn zum Begründer der Atomlehre macht. Doch bevor wir jetzt in die Physik abdriften, vollziehen wir die sokratische Wende – weg von der Naturphilosophie und Fragen zur Weltordnung hin zu Themen, die direkt uns Menschen betreffen. Mehr dazu im nächsten Beitrag.
Zitate als Quellen · PDF
Zu guter Letzt: Woher stammt unser Wissen über die Philosophie der Vorsokratiker? Über »die Quellen für die vorsokratische Philosophie« schreiben Geoffrey S. Kirk, John E. Raven und Malcolm Schofield in dem Werk Die vorsokratischen Philosophen: Einführung, Texte und Kommentare (1994). Hier ein kleiner Auszug aus den einleitenden Bemerkungen (hier in voller Länge als PDF verfügbar):
Die wirklichen Fragmente der vorsokratischen Denker sind erhalten als Zitate bei nachfolgenden antiken Autoren, angefangen von Platon im 4. Jahrhundert v. Chr. bis hin zu Simplikios im 6. Jahrhundert n. Chr. […]. Der Zeitpunkt der Quelle, in der ein Zitat begegnet, ist selbstverständlich kein zuverlässiger Indikator für ihre Verläßlichkeit.
So ist Platon, wo er beliebige andere Quellen zitiert, notorisch lax; er vermischt oft Zitate mit Paraphrasen, und seine Einstellung zu seinen Vorgängern ist häufig nicht objektiv, sondern humorig oder ironisch.
Der Neuplatoniker Simplikios andererseits, der ein ganzes Jahrtausend später als die Vorsokratiker lebte, fertigte lange und offensichtlich genaue Zitate an, insbesondere von Parmenides, Empedokles, Anaxagoras und Diogenes von Apollonia […]
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