Eine kurze Geschichte der Menschheit · Harari

Wie kam es, dass wir Menschen über zig Jahrtausende hinweg als affenartige Wesen in der afrikanischen Wildnis lebten, ehe wir uns plötzlich anschickten, den Planeten zu erobern?

Was hat es mit der »kleinen Verschiebung« im Gehirn auf sich, die wir die »Kognitive Revolution« nennen?

Und was geschah seither in der wirklichen und der imaginären Welt des weisen H. sapiens?

Diese Fragen und viele mehr beantwortet Yuval Noah Harari in seinem Werk Eine kurze Geschichte der Menschheit. Nachfolgend eine Buchkritik und grobe Zusammenfassung des jungen Klassikers, begleitet von ausgewählten Zitaten.

Der Autor von Eine kurze Geschichte der Menschheit

Yuval Noah Harari ist 1976 in der israelischen Küstenstadt Haifa geboren und wuchs in einer jüdischen Familie mit libanesischen und osteuropäischen Wurzeln auf. Bereits seit seinem 30. Lebensjahr lehrt er an der Hebräischen Universität Jerusalem.

Als er die Stelle antrat, kannte Harari bereits seinen späteren Manager und Ehemann Itzik Yahav. Die beiden heirateten in Kanada, da gleichgeschlechtliche Eheschließungen in Israel untersagt sind. Im Ausland geschlossene gleichgeschlechtliche Ehen werden jedoch anerkannt. Anders als schräg gegenüber am saudi-arabischen Ufer des Roten Meeres, wo auf Homosexualität die Todesstrafe steht.

Harari über schwulenfeindliche Gesetze:

Die Kultur behauptet gern, sie verbiete »unnatürliche« Dinge. Aber aus biologischer Sicht ist nichts unnatürlich. Alles was möglich ist, ist definitionsgemäß auch natürlich. Eine unnatürliche Verhaltensweise, die den Gesetzen der Natur widerspricht, kann es gar nicht geben, weshalb es völlig sinnlos ist, sie verbieten zu wollen. Keine Kultur hat sich je die Mühe gemacht, Männern die Photosynthese oder Frauen die Fortbewegung mit Überlichtgeschwindigkeit zu verbieten.

Yuval Noah Harari: Eine kurze Geschichte der Menschheit. München 2015, S. 184

Gespickt mit spitzen Bemerkungen wie diesen ist Eine kurze Geschichte der Menschheit 2011 in Israel erschienen, auf Hebräisch. Drei Jahre später folgte eine Übersetzung ins Englische. Inzwischen liegt das Buch in knapp 50 Sprachen vor.

Bemerkenswerte Neuausgaben: Der Weltbestseller Eine kurze Geschichte der Menschheit ist inzwischen auch als aktualisierte und illustrierte Schmuckausgabe sowie als Graphic Novel erhältlich.

Obama über das Buch

Um eine von vielen Lobeshymnen hervorzuheben: Der ehemalige US-Präsident Barack Obama nannte Hararis Buch: »Interessant und provokant« und empfahl es mit den Worten:

Es bespricht einige Kernelemente, die uns ermöglicht haben, diese außerordentliche Zivilisation aufzubauen, die wir heute als selbstverständlich wahrnehmen.

Barack Obama via CNN

Hach ja, Obama über Dinge, die wir als selbstverständlich wahrnehmen – wie heißt es so schön? »Vieles lernen wir erst zu schätzen, wenn es uns abhandenkommt.« Und nein, das ist kein Tweet aus dem Weißen Haus.

Weltherrschaft der bewaffneten Schafe

Raubtiere wie Löwen oder Haie hatten sich über Jahrmillionen hinweg hochgebissen und angepasst. Die Menschen dagegen fanden sich fast von einem Tag auf den anderen an der Spitze wieder und hatten kaum Gelegenheit, sich darauf einzustellen. Viele Katastrophen der Menschheitsgeschichte lassen sich mit dieser überhasteten Entwicklung erklären […].

Die Menschheit ist kein Wolfsrudel, das durch einen unglücklichen Zufall Panzer und Atombomben in die Finger bekam. Die Menschheit ist vielmehr eine Schafherde, die dank einer Laune der Evolution lernte, Panzer und Atombomben zu bauen. Aber bewaffnete Schafe sind ungleich gefährlicher als bewaffnete Wölfe.

Harari, S. 21

Persönlicher Kontext

Es war im November 2016 – nach jenem erschütternden Wednesday Morning nach der US-Wahl, den Macklemore später in einer Weise in Worte fasste, die mir aus dem Herzen sprach. Donald Trump hatte gewonnen. What. The. F-Word. Unter dem frischen Verlust meines Glaubens an die Menschheit (Brexit war ja auch nicht lange her) suchte ich nach Antworten.

Unterm Strich wohl auf die Frage: Sind wir immer schon so blöd gewesen? Auf globale Krisen mit nationaler Isolation reagieren? Really?

Aus dieser miesen Laune heraus tätigte ich im Buchhandel einen uninformierten Lustkauf. Den Namen Harari kannte ich da noch nicht. Allein Cover und Titel sprachen mich an – und ich hatte eine lange Autofahrt vor mir, also her mit dem Hörbuch.

Was seither geschah: Ich habe Eine kurze Geschichte der Menschheit erst gehört, dann gelesen, dann Hararis nächstes Buch Homo Deus im Original verschlungen, ehe es 2017 auf Deutsch herauskam, um es auch dann nochmal in deutscher Übersetzung gemeinsam mit einem syrischen Freund zu lesen und zu diskutieren – vor dem Hintergrund zweier unterschiedlicher kultureller Prägungen. Das machte die Lektüre umso spannender.

Ich besuchte die Ausstellung in Bundeskunsthalle in BonnEine kurze Geschichte der Menschheit – 100.000 Jahre Kulturgeschichte, basierend auf Hararis Publikationen. Hier geht’s zu einem Blick hinter die Kulissen der Ausstellung. Auch Harari kommt dabei zu Wort.

Ach ja, und inzwischen ist (Spoiler-Alert!) jedes Präsent, das ich aus welchem Anlass auch immer zu verschenken habe, das eine oder andere Buch von Harari.

Die Experten-Falle

Bin ich ein Fan? Ja und nein. Ich habe durchaus die Befürchtung, dass dem jungen Autor (Jahrgang 1976) sein schlagartiger Kultstatus zu Kopf steigen könnte und er in die »Experten-Falle« tappt, was seine Prognosen über die Zukunft angeht.

Bei der Bewertung der intuitiven Urteile von Experten sollte man immer erwägen, ob der Experte hinlänglich Gelegenheit hatte, seine Fähigkeit zur Mustererkennung zu üben, auch in einem regelmäßigen Umfeld.

Daniel Kahneman: Schnelles Denken, langsames Denken, S. 300.

Es gibt doch kaum ein unregelmäßigeres Umfeld, als die menschliche Geschichte und Gesellschaft. Ausgerechnet Hararis Themen. Gewiss, er schreibt Fakten-orientiert und betont immerzu, dass sich keine sicheren Vorhersagen treffen ließen.

Andererseits geht er zuweilen leichtfertig mit großen Begriffen und Fragen um. Kahneman hat in Schnelles Denken, langsames Denken (2017) überzeugend dargelegt, wie schnell Menschen, denen ein Experten-Status anhaftet, zu voreiligen oder verfehlten Urteilen neigen, weil alle (sie eingeschlossen) dazu neigen, diese Expertise zu überschätzen. Denn es bleibt ja nunmal so:

Ob es uns gefällt oder nicht, wir gehören der großen und krawalligen Familie der Menschenaffen an.

Harari, S. 13.

Das Buch Eine kurze Geschichte der Menschheit

In aller Kürze: Eine kurze Geschichte der Menschheit schlägt den großen Bogen. Das Buch beginnt damit, wie H. sapiens sich gegen seine menschliche Konkurrenz behauptete und den Planeten eroberte. Und es schließt damit, wo unsere Reise in Zeiten der Gentechnik noch hingehen wird. Auf rund 500 Seiten fasst Harari – Professor für Militär- und Weltgeschichte – die wichtigsten Stationen unserer Historie zusammen.

Nach einem kurzen biologischen Diskurs kommt Harari recht zügig auf das Thema seines Buchs zu sprechen. Denn das ist weder die Geschichte des Universums (Physik), noch die Geschichte der Atome und Moleküle (Chemie), oder die Geschichte der Organismen (Biologie), wie den besagten Menschenaffen in tierischer Hinsicht.

Stattdessen geht es ihm um die Geschichte des Menschen, spezifischer: um den H. sapiens. Vor langer Zeit war diese Spezies eine von vielen, hervorgegangenen aus den ersten Vertretern jener Gattung, die vor rund zwei Millionen Jahren ihre Heimat in Ostafrika verließen. Die Urmenschen verteilten sich über den Globus.

Und da das Überleben in den verschneiten Wäldern Nordeuropas andere Fähigkeiten erfordert als im schwülen Dschungel Indonesiens, entwickelten sich die Auswanderergruppen in unterschiedliche Richtungen. Das Ergebnis waren verschiedene Arten […]

S. 14

Die Neandertaler zum Beispiel, der in Asien und Europa lebte. Doch der H. sapiens, der erst vor rund 300.000 Jahren entstand, verdrängte sie schließlich alle – aufgrund ihrer überlegenen Technologie und Sozialkompetenz. Diese Vorteile hat der Mensch einem Entwicklungssprung zu verdanken, der erst rund 70.000 Jahre zurückliegt: der kognitiven Revolution.

Gliederung nach Revolutionen

Hararis Menschheitsgeschichte ist nicht in Altertum, Mittelalter, Neuzeit gegliedert. Stattdessen fächert sich das Werk in vier Teile auf, die überwiegend nach Revolutionen benannt sind. Jedoch andere Revolutionen als etwa die Französische Revolution von 1789 oder die Russische Revolution von 1917.

Ausschlaggebend sind weniger ereignisgeschichtliche, als vielmehr schleichende, übergeordnete Veränderungen wie eben jene kognitive Revolution. Die Gliederung schaut im Groben wie folgt aus.

  • Teil 1: Die kognitive Revolution. Vor rund 70.000 Jahren wird Homo sapiens durch eine »kleine Verschiebung in der Struktur des Gehirns« fähig, in Gruppen von mehr als 150 Individuen zu kommunizieren und Pläne zu schmieden. Es geht darum, wie unser urzeitlicher Alltag aussah, wie wir uns ausbreiteten und schließlich all die anderen menschlichen Spezies verdrängten.
  • Teil 2: Die landwirtschaftliche Revolution. H. sapiens wird sesshaft und entwickelt die Schrift. Wir bauen Pyramiden, behandeln einander jedoch ungerecht. Hier rücken Sklaverei und Geschlechterrollen in den Fokus.
  • Teil 3: Die Vereinigung der Menschheit. H. sapiens erschafft Geld, Götter und andere große Ideen, die Gemeinschaften zusammenhalten – aber warum funktioniert Geld überhaupt? Und was ist ein Imperium? Solche Fragen werden in diesem Teil beantwortet.
  • Teil 4: Die wissenschaftliche Revolution. H. sapiens schaut über den Horizont hinaus, entdeckt Kontinente und Keimzellen – die Weltbeherrschung durch den Menschen nimmt an Fahrt auf. Legendäre Entdeckungsreisen und der Siegeszug des Kapitalismus stehen im abschließenden Teil im Mittelpunkt.

Auftakt · Geschichte als Abenteuerroman

Die Erzählung Hararis beginnt also in grauer Urzeit. Sie nimmt unter anderem die ersten Menschen in den Fokus, die einen Fuß auf australischen Boden setzten. Harari beschreibt die verheerenden Folgen dieses Schrittes für die dortige Fauna in schlichter, schöner Sprache – wie aus einem Abenteuerroman:

Auf ihrem Weg trafen die Menschen auf eine sonderbare Welt voller unbekannter Lebewesen: Sie stießen auf Kängurus, die 200 Kilogramm wogen und zwei Meter hoch aufragten. […] In den Wäldern hausten das Zygomaturus trilobus, das gewisse Ähnlichkeit mit einem Zwergnilpferd hatte und eine halbe Tonne wog, und das gigantische, zweieinhalb Tonnen schwere Diprotodon. […] Innerhalb weniger Jahrtausende verschwanden diese Riesen. Von den 24 australischen Tierarten, die über 50 Kilogramm wogen, starben 23 aus.

S. 88

Der Autor weist wiederholt darauf hin, dass er bei seiner Beweisführung oft auf Indizien zurückgreift und dass es, je weiter der Rückblick, desto weniger Gewissheiten gibt. Dennoch sind Hararis Argumente, die H. sapiens als Massenmörder und Artenausrotter darstellen, sehr überzeugend.

Ausklang · Revolution als Normalzustand

Am Ende von Eine kurze Geschichte der Menschheit läuft alles auf eine »permanente Revolution« hinaus. Eine solche sieht Harari gegeben in unserer stetig im Wandel begriffenen Gegenwart, zu der er immer wieder einen Bezug herstellt, wenn er auch längst vergangene Geschehnisse und Systeme bespricht. Ausgerechnet eines meiner liebsten Beispiele dafür fehlt in der deutschen Übersetzung – nämlich der letzte Satz aus diesem Abschnitt (den ich jetzt mal notdürftig selbst ins Deutsche übersetzt habe):

Imperien bringen in der Regel Mischkulturen hervor, die dem Einfluss der eroberten Völker viel zu verdanken haben. Die Kultur des Römischen Reichs war beispielsweise fast so griechisch wie römisch. Die Kultur des Abbasidenreichs speiste sich aus persischen, griechischen und arabischen Quellen. Und das Mongolenreich war eine Kopie des chinesischen Kaiserreichs. In den imperialen Vereinigten Staaten kann ein amerikanischer Präsident mit kenianischem Blut eine italienische Pizza mampfen, während er seinen britischen Lieblingsfilm »Lawrence von Arabien« anschaut, über die arabische Rebellion gegen die Türken.

S. 243

Warum ist dieser letzte Satz nicht in der deutschen Übersetzung von Eine kurze Geschichte der Menschheit zu finden? War in der unmittelbaren Post-Obama-Ära nicht mehr aktuell, oder was? Bitte schön:

Mischkultur 2.0

In den imperialen Vereinigten Staaten kann ein amerikanischer Präsident mit deutsch-schottischem Blut einen mexikanischen Taco mampfen, während er seinen italienischen Lieblingsfilm »The Good, The Bad, The Ugly« anschaut, über den Sezessionskrieg zwischen den Nord- und Südstaaten.

Vgl. Ashley Collmans Insider-Beitrag über Trumps Wurzeln, Trumps Taco-Tweet aus 2016 und Frank Digiacomos Movieline-Beitrag über Trumps Lieblingsfilme.

Müsste in der Neuauflage ja nicht zwingend dazu geschrieben werden, dass dieser Präsident nach dem Film noch sein (in China zusammengesetztes) iPhone zückt und »BUILD THE WALL!!! AMERICA FIRST!!!« an die Weltbevölkerung hinaus zwitschert. (Sollten wir aber stets dazuschreiben, finde ich, nur zur Erinnerung daran, wer da vier irre Jahre lang das mächtigste Land der Welt regiert hat.)

Tipp: Apropos Menschen mit kurzer Aufmerksamkeitsspanne: Eine noch kürzere Geschichte der Menschheit bietet der YouTube-Kanal Kurzgesagt. In Ergänzung zu Hararis Buch sehr sehenswert, das Webvideo: Was kam vor der Geschichte? Der Ursprung der Menschheit.


Kritik an Eine kurze Geschichte der Menschheit

Im Folgenden möchte ich auf Kritik an Eine kurze Geschichte der Menschheit eingehen. Zum Teil, um diese Kritik postwendend zu entkräften. So schrieb mir etwa jemand bei YouTube einige Kritikpunkte zu Hararis Buch. Hier, der Einfachheit halber, dieser Kommentar samt meiner Antwort darauf als etwas längere Zitate eingefügt:

Kritik an der Domestikations-These

YouTube-Kommentar: Das Buch von Yuval Noah Harari ist absolut nicht zu empfehlen. Viel ideologisches Geplänkel und Faktenverdrehungen sind anzutreffen. (…) Beispielsweise die Behauptung der Mensch wurde vom Weizen domestiziert in Folge der landwirtschaftlichen Revolution. Nette Vorstellung, hinter der aber nichts Tieferes steckt, weil es a) nicht näher begründet wird und b) keine geschichtliche Tatsache ist.

»Grobe Vereinfachungen und Spekulationen«

Einseitig wird eine Spaltung der Menschen dargestellt, wie, dass Stadtmauern gebaut wurden, um andere Gruppen daran zu hindern zu klauen. Dabei soll Diebstahl in dieser Zeit nicht nachweisbar sein und Mauern wurden nicht einzig des Schutzes wegen gegen andere Menschen gebaut. Dafür braucht es kein großes historisches Wissen, sondern etwas Vorstellungsvermögen. Sonst hatte ich damals, als ich das Buch las eine gute Seite gefunden, die Kritik äußert, leider finde ich sie zurzeit nicht, wenn ich sie finde schicke ich es.

Generell kann man sagen, bei näherer Betrachtung wird jemand mit Spezialwissen in einem historischen Teilgebiet Fehler, grobe Vereinfachungen und Spekulationen anfinden, da die Geschichte schlicht zu komplex ist, um sie als Universalhistoriker auf 500 Seiten mundgerecht zu verpacken.

Antwort auf das Kommentar: Dass der Mensch »vom Weizen domestiziert« wurde, würde es eher eine These als eine bloße Behauptung nennen. Pointiert formuliert Harari sie in der englischen Ausgabe (meine deutsche Ausgabe habe ich aktuell verliehen) auf Seite 90: »[…] wheat, rice and potatoes. These plants domesticated Homo sapiens rather than vice versa.« Darauf folgen fünf Seiten, auf denen er für diese These argumentiert, unter anderem unter Berufung auf Quellen aus den Zeitschriften Evolutionary Anthropolgy und Sciene – das ist für mich durchaus der Versuch einer »näheren Begründung«.

Was die »geschichtliche Tatsache« angeht: Dass Menschen in einer bestimmten Zeitspanne an bestimmten Orten sesshaft wurden und Getreide anbauten, das erscheint mir als die historische Tatsache, die Harari wiederum zu interpretieren versucht.

»Mundgerecht verpackt, lobenswert und wichtig.«

»Diebstahl [soll] in dieser Zeit nicht nachweisbar sein« – mit Deichkind gefragt: Wer sagt denn das? Stichwort Mauern, da du ans Vorstellungsvermögen appellierst: Welche anderen Gründe kannst du dir vorstellen, eine Mauer zu bauen, wenn nicht zum Schutz? Die »gute Seite«, auf die du dich beziehst, ist eventuell der Text Die große Harari-Ver(w)irrung von Michael Schmidt-Salomon, der gehaltvoll gegen Harari argumentiert. Allerdings ist der Autor auch nicht ganz unvoreingenommen. (Hier weise ich auf eben diesen Beitrag hin, den du gerade liest – denn weiter unten gehe ich noch auf Schmidt-Salomons Text ein.)

Ich finde den Versuch, die Geschichte »mundgerecht« zu verpacken, lobenswert und wichtig, da viele Menschen nicht die Zeit und Muße haben, sich »das große Ganze« über eine ganze Reihe von Büchern anzulesen.

Kritik am Geschlechter-Kapitel

In einem Punkt möchte ich Harari selbst widersprechen. In dem Kapitel »Die Geschichte ist nicht gerecht« schreibt der Autor über die Geschlechterrollen im Laufe der Menschheitsgeschichte. Vorweg bringt er in Eine kurze Geschichte der Menschheit zwei prägnante Beispiele für den tradierten Frauenhass. Sei es, dass die ältesten chinesischen Texte aus dem 12. Jahrhundert die Geburt eines Mädchens als Unglück bezeichnen, oder dass in der Bibel die Vergewaltigung einer Jungfrau damit »gebüßt« wird, dass der Vergewaltiger dem Vater die entjungferte Frau zur Strafe abkaufen und sein Leben lang behalten muss. Nach diesen Beispielen wirft Yuval Noah Harari eine Frage auf:

Ist der Unterschied zwischen Männern und Frauen ein Fantasieprodukt […]? Oder handelt es sich um einen natürlichen Unterschied? Anders gefragt, gibt es biologische Gründe für die Privilegien, die Männer gegenüber Frauen genießen?

S. 182

Anders gefragt: Gibt es das schwache Geschlecht? Eine Beantwortung aus biologischer Sicht haben wir vor kurzem mithilfe von Simone de Beauvoir vorgenommen. (Link folgt)

Biologisch vs. soziologisch

Harari kommt ziemlich rasch auf eine ziemlich flache Antwort: 

Das biologische Geschlecht ist Kinderkram […] Nichts ist einfacher, als biologisch ein Mann zu werden: Man wird mit einem X- und einem Y-Chromosom geboren, und fertig. Eine Frau zu werden, ist nicht schwieriger: Ein Paar von X-Chromosomen reicht vollkommen aus.

S. 187

In sozialer, respektive gesellschaftlicher Hinsicht eine Frau oder ein Mann zu werden, das ist ungleich schwieriger. Als Harari zu ergründen versucht, warum die Frau zu allen Zeiten und in allen Kulturen unterdrückt wurde, geht er die klassischen Argumente durch: Muskelkraft, Aggressivität, Patriarchat. Nach ein paar Seiten zieht Harari sein Fazit:

Wie kam es, dass in einer Art, deren Erfolg vor allem von der Kooperation abhängt, eine vermeintlich kooperativere Gruppe, nämlich die Frauen, von einer vermeintlich weniger kooperativen Gruppe, nämlichen [sic!] den Männern, beherrscht wird? Das ist die große Frage in der Geschichte der Geschlechter, und auf sie haben wir bislang keine überzeugende Antwort.

S. 197

Doch, haben wir. Gleich mehrere und ziemlich überzeugend, finde ich. Nur eben viel zu ausführlich, als dass sie in Eine kurze Geschichte der Menschheit gepasst hätten.

Überzeugende Antworten

Die Philosophin Simone de Beauvoir erklärt in ihrem umfangreichen Werk Das andere Geschlecht (1949) sehr detailliert, wie es dazu kam, dass die Männer die Frauen beherrsch(t)en. Es ist eine komplexe Mischung aus besagten Argumenten, der Muskelkraft, der Aggressivität und vor allem des Patriarchats. Statt aber auf weiterführende Literatur zu verweisen, spekuliert Harari:

Vielleicht ist ja schon die Grundannahme falsch. Könnte es sein, dass sich die männlichen Angehörigen der Homo sapiens gerade nicht durch überlegene Körperkraft, Aggressivität und Konkurrenzfähigkeit auszeichnen, sondern durch überlegene Sozialkompetenz und größere Kooperationsbereitschaft?

S. 197

Es tut weh, dieses Zitat aus Eine kurze Geschichte der Menschheit hier zu platzieren. Es macht mir mein Loblied auf dieses (trotzdem) großartige Buch ein bisschen kaputt. Denn es handelt sich um eine hanebüchene Behauptung, die aus dem Nichts kommt und ohne Erläuterung stehen gelassen wird.

Da drängt sich der Verdacht auf, dass mir diese eine Schwachstelle nur deshalb auffällt, weil ich in Sachen Gender Studies wegen einer Philosophie-Prüfung zufällig mal etwas tiefer im Thema war – und mir andere Schwachstellen deshalb nicht auffallen, weil mein Allgemeinwissen zu oberflächlich ist. Andere Schwachstellen, wie Hararis »Nazis sind Humanisten«-Gleichung vielleicht?

Kritik an der Humanismus-Auffassung

Damit kommen wir zum bereits angesprochenen Text Die große Harari-Ver(w)irrung von dem Philosophen und Schriftsteller Michael Schmidt-Salomon, veröffentlicht am 1. August 2017 auf der Website des Humanistischen Pressedienstes.

Die große Harari-Ver(w)irrung

Es handelt sich dabei um einen ziemlichen Zerriss gleich zweier Bücher von Harari. Eine kurze Geschichte der Menschheit und Homo Deus werden anhand eines einzigen (aber wichtigen) Aspekts vernichtend abgefrühstückt. Dieser Aspekt ist Hararis Humanismus-Auffassung. Der Auftakt zu Schmidt-Salomons »Warnung« vor Harari mutet banal an.

In beiden Büchern meint Harari […], den Humanismus als eine »Religion« charakterisieren zu müssen (eine Differenzierung zwischen »Religionen«, »Weltanschauungen« oder »Philosophien« sucht man vergeblich) […]

Michael Schmidt-Salomon

In Homo Deus nennt Harari den Humanismus zwar auch mal eine »Weltsicht« (S. 336), aber egal, interessanter ist seine Bemerkung in Eine kurze Geschichte der Menschheit.

Die Moderne erlebte den Aufstieg zahlreicher neuer Naturgesetz-Religionen, zum Beispiel des Liberalismus, des Kommunismus, des Kapitalismus, des Nationalismus und des Nationalsozialismus. Die Anhänger dieser Religionen reagieren zwar sehr allergisch auf das Wort »Religion« und bezeichnen sie lieber als »Ideologien«. Doch das ist lediglich ein Wortspiel […]

S. 277f.

Für und gegen ein und dieselbe Sache?

Dass sich Schmidt-Salomon auf dieses Wortspiel einlässt und daran stößt, den Humanismus (der in der eben zitierten Aufzählung fehlt, aber im selben Kapitel diskutiert wird) als »Religion« bezeichnet zu sehen, ergibt Sinn. Michael Schmidt-Salomon ist seinerseits dezidierter Humanist und Religionskritiker. Er hat sogar ein Manifest für den Humanismus und ein Kinderbuch gegen Religionen geschrieben. Da wäre ich auch stinkig, wenn jemand sagen würde: »Ist doch dasselbe.«

Harari zählt in Eine kurze Geschichte der Menschheit ein paar »wichtige Splittergruppen« des Humanismus auf. Namentlich: den liberalen, sozialistischen und evolutionären Humanismus. Gemeinsam sei ihnen die Ansicht, dass der Mensch über eine einmalige Natur verfügt, die ihn wesentlich von allen anderen Organismen unterscheidet. Ihr höchstes Gut sei das Wohl des Menschen. Der evolutionäre Humanismus im Speziellen besagt, so Harari:

Die menschliche Natur unterliegt Veränderungen. Die Menschen können zum Untermenschen degenerieren oder sich zum Übermenschen entwickeln. […] Das oberste Gebot ist der Schutz der Menschheit vor der Degeneration zum Untermenschen und die Züchtung des Übermenschen.

S. 283

Da schrillen die Alarmglocken, verständlicherweise. Ausgerechnet der evolutionäre Humanismus muss in Eine kurze Geschichte der Menschheit herhalten, um die Ideologie der Nazis in Relation zu anderen Glaubensvorstellungen darzustellen. Mit historisch aufgeladenen Begriffen wie dem »Übermensch«, der auch dieser Tage gemeinhin noch weniger auf Nietzsche als auf die Nazis zurückgeführt wird. Das rückt den evolutionären Humanismus in ein sehr schlechtes Licht.

Dabei ist (ausgerechnet!) dieser Humanismus doch das Steckenpferd von Michael Schmidt-Salomon. Sein besagtes Manifest heißt Manifest des evolutionären Humanismus: Plädoyer für eine zeitgemässe Leitkultur (2006). Ich habe es nicht gelesen, weshalb ich hier nur auf Schmidt-Salomons Kritik hinweisen, statt Harari gegen ihn verteidigen möchte. Nichtsdestotrotz:

Der evolutionäre Humanismus der Gegenwart

Als Yuval Noah Harari im Sommer 2015 zu Besuch in Facebooks Buchclub war (klingt romantischer, als es ist: eine Facebook-Gruppe mit dem Titel A Year of Books, benannt nach der von Zuckerbergs Lese-Gewohnheiten inspirierten Website), da fragte der Facebook-Gründer den Historiker, ob der evolutionäre Humanismus eine zunehmend verbreitete Philosophie werde, angesichts des technologischen Fortschritts. Harari antwortete:

In der Gegenwart scheint der evolutionäre Humanismus zurück im Rennen zu sein. Nachdem es nach dem Zweiten Weltkrieg in Verruf geraten war, kommt es plötzlich wieder in Mode, über das Upgraden von Menschen zu sprechen. Natürlich sind die Methoden und die Ethik heute grundverschieden. Ich habe überhaupt keine Intention, den evolutionären Humanismus der Gegenwart mit den Nazis zu vergleichen. Aber ich tippe, dass irgendeine Variante des evolutionären Humanismus die dominierende neue Religion des 21. Jahrhunderts sein wird.

Yuval Noah Harari, in: A Year of Books, Q&A | 30. Juni 2015

Hararis Begriffsverwirrung

Mal abgesehen davon, dass Harari hier wieder von »Religion« spricht – zieht er sich mit dieser Antwort (zwei Jahre vor Schmidt-Salomons Artikel) aus der Affäre? Nein, die Kritik Schmidt-Salomons ist grundlegender. Er wirft Harari eine »Begriffsverwirrung« vor. Dafür, dass der Historiker den »evolutionären Humanismus« als Begriff überhaupt bemüht.

Schmidt-Salomon ist insofern recht zu geben, als der evolutionäre Humanismus begrifflich schon aus der Gegenposition des Rassismus kommt (1935 verwendete ihn der Begründer des Begriffs, Julian Huxley, in dem Buch We Europeans: A Survey on Racial Problems).

Fakt ist jedoch, dass es für ihn (Harari) einige dramaturgische Vorteile mit sich brachte, den evolutionären Humanismus kontrafaktisch mit Hitler und den sozialistischen Humanismus kontrafaktisch mit Stalin zu verbinden. Denn ohne diesen Kniff hätte die Geschichte, die Harari seinen Leserinnen und Lesern verkaufen wollte, nämlich die Geschichte vom nahenden Untergang des Humanismus, gar nicht funktioniert.

Michael Schmidt-Salomon

Nun hat Harari aber – wie zitiert – ja nicht für den »nahenden Untergang«, sondern vielmehr den Aufstieg des (evolutionären) Humanismus getippt.

Die Gefahr, dass eine (sehr) kurze Geschichte der Menschheit mit Kürzungen und Vereinfachungen danebengreift, ist groß. Auch in Schmidt-Salomons Kritik drängt sich wieder der Verdacht auf, dass der Autor diese Schwachstelle bei Harari gerade deshalb entdeckt hat, weil es zufällig sein eigenes Fachgebiet ist.

Ich kann nicht beurteilen, wie viele weitere solch angreifbarer Schwachstellen in dem Buch schlummern. Doch nach jetzigem Kenntnisstand, unter Berücksichtigung der gegeben Kritikpunkte, behalte ich eine hohe Meinung von Eine kurze Geschichte der Menschheit: Die großen Vorzüge der Lektüre überwiegend die Schwächen.

Fazit und Ausblick

In Der futurologische Kongreß (1977) beschreibt Sci-Fi-Autor Stanisław Lem eine Zukunft, in der Menschen ihren Wissensdurst stillen, indem sie etwa Enzyklopädien schlucken. Das liest sich so: »04.09.2039. Endlich habe ich erfahren, wie man sich Enzyklopädie beschafft. Ja, noch mehr, ich besitze schon eine. Sie füllt drei gläserne Ampullen. […] Bücher liest man jetzt nicht mehr; man verschlingt sie.« (S. 91)

Wer schon in unserer Gegenwart ein Buch verschlingen möchte, das (beinahe) die Informationswucht einer Enzyklopädie und (auf jeden Fall) den Unterhaltungswert eines Abenteuerromans in sich bündelt, ist mit Eine kurze Geschichte der Menschheit bestens bedient. Harari macht uns durch seinen ausdrucksstarken Schreibstil die Geschichte der eigenen Spezies schmackhaft.

Die Auswahl seiner Beispiele und das Aufzeigen von Sinnzusammenhängen (trotz oder gerade wegen ihrer Überzeugungskraft natürlich stets zu mit Bedacht zu genießen!) machen komplexe Vorgänge und Strukturen begreifbar. Am Ende seiner kurzen Geschichte, die mit der Kognitiven Revolution begann, stellt Harari in Aussicht, was auf dieses Werk folgen muss:

Die kognitive Revolution, die den Homo sapiens von einem unbedeutenden Affen in den Herrn der Welt verwandelte, erforderte keinen körperlichen Umbau und keine Vergrößerung des Gehirns. Ein paar kleinere Verschiebungen in der Struktur des Gehirns genügten offenbar schon. Vielleicht ließe sich mit einer weiteren kleinen Veränderung eine zweite kognitive Revolution anstoßen und eine neue Form des Bewusstseins erzeugen, die den Homo sapiens in ein völlig neues Wesen verwandelt.

S. 492

Homo Deus, so heißt Yuval Noah Hararis nächstes Buch – mit dem Untertitel: Eine kurze Geschichte von morgen. Es knüpft direkt an Eine kurze Geschichte der Menschheit an und handelt, nach dem Blick in unsere Vergangenheit, von der näheren und ferneren Zukunft der Menschen.

1 Gedanke zu „Eine kurze Geschichte der Menschheit · Harari“

  1. Hi David,
    wow, das ist mal eine Rezension. Vielen Dank! Ein beeindruckendes Buch, faktenschwer und verfasst mit einigem Esprit. Leider nur sieht’s wie immer düster aus für uns Menschen, und mehr noch für Flora und Fauna, die wir immer mehr zurückdrängen. Bitter.
    Grüße!
    Olaf

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