Theorie der ethischen Gefühle · Smith

In diesem Fachbeitrag geht es um die Theorie der ethischen Gefühle von Adam Smith, der 1723 in Schottland geboren wurde. Geschichtlich bewegen wir uns damit in der Epoche der Aufklärung und thematisch im Bereich der Moralphilosophie (der Ethik). Wir widmen uns zunächst dem sogenannten Adam-Smith-Problem. Danach gibt es eine historische Einordnung und einen Überblick zu Aufbau und Inhalt der Theorie. Zuletzt nehmen wir den zweiten Teil des Werks, über Verdienst und Schuld, genauer unter die Lupe.

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Der Wohlstand der Nationen

Smith ist vor allem für sein Hauptwerk bekannt, Der Wohlstand der Nationen. Diese Schrift ist 1776 erschienen und markiert den Beginn der Wirtschaftswissenschaft. Du kennst im Kontext mit Adam Smith vielleicht die Metapher von der »unsichtbaren Hand« des Marktes. Damit ist oft die Vorstellung gemeint, dass der Markt sich von allein reguliere – wie durch unsichtbare Hand eben – wenn nur jeder Mensch im Marktgeschehen auf sein eigenes Wohl bedacht sei.

Wie passt es zusammen, dass der Autor einer vermeintlich so egoistischen Wirtschaftslehre 17 Jahre zuvor eine Theorie der ethischen Gefühle geschrieben hat? Zumal das Fazit dieser Theorie nicht lautet: »Moral ist Müll, also weg damit!« Nein, die beiden Werke scheinen tatsächlich Widersprüche zu offenbaren. Diese Widersprüche wurden zum Gegenstand des Adam-Smith-Problems aufgebauscht, mit der zentralen Frage: Wie passen der egoistische Nationalökonom und der altruistische (wohlwollende) Moralphilosoph zusammen?

Die unsichtbare Hand

Auf den Punkt bringt’s vielleicht die Vermutung des Übersetzers Walther Eckstein, der Smith zu den Autoren zählt, »die mehr zitiert als gelesen werden«. Beispiel: Schon die berühmte »unsichtbare Hand« wird in Der Wohlstand der Nationen eher beiläufig genannt – viertes Buch, zweites Kapitel – und ist nicht von Smith erfunden worden. Er verwendet bloß eine seinerzeit verbreitete Redensart im Zusammenhang mit Markt-Beteiligten, die nicht nach einem Gemeinwohl strebten, sondern auf ihren eigenen Güterbedarf bedacht seien. Dennoch wirke der Mechanismus des Marktes (wie gesteuert durch eine »unsichtbare Hand«) auf ein wirtschaftliches Optimum hin. Erstens besteht hier kein Aufruf zur Ellenbogen-Gesellschaft, zweitens kein Widerspruch zur Theorie der ethischen Gefühle, in der Smith – vierter Teil, erstes Kapitel – über einen gefühllosen Grundherrn schreibt. Er gehört zu den Reichen, die…

[…] obwohl sie nur ihre eigene Bequemlichkeit im Auge haben, obwohl der einzige Zweck, welchen sie durch die Arbeit all der Tausende, die sie beschäftigen, erreichen wollen, die Befriedigung ihrer eigenen […] Begierden ist, trotzdem teilen sie doch mit den Armen den Ertrag aller Verbesserungen, die sie in ihrer Landwirtschaft einführen.

S. 296

Das war jetzt – wie gesagt – aus der Theorie der ethischen Gefühle. Und schon in dieser Schrift heißt es, gleich im nächsten Satz:

Von einer unsichtbaren Hand werden [die Reichen] dahin geführt […] und so fördern sie, ohne es zu beabsichtigen, […] das Interesse der Gesellschaft und gewähren die Mittel zur Vermehrung der Gattung.

Beispiel Bezos

Als aktuelle Galionsfigur für einen solchen Grundherrn-Typus ließe sich Jeff Bezos anführen. Der Amazon-Chef und Multimilliardär mit dem Rich-Kid-Hobby Raumfahrt ist als legendär kontroverser Arbeitgeber bekannt. Doch hunderttausende Jobs unter umstrittenen Bedingungen sind immer noch hunderttausende Jobs und ein unbestreitbarer Einfluss auf die wachsende Weltwirtschaft. In beiden Erwähnungen der »unsichtbaren Hand« geht es Smith nicht darum, wie die Zustände sein sollten, sondern wie sie seien. Er versteht sich als Beobachter. Und er beobachtet auch in seiner moralphilosophischen Schrift, dass Egoismus gesellschaftliche Anerkennung genießt. Aufmerksames, fleißiges oder umsichtiges Verhalten gilt als lobenswert, obwohl es maßgeblich erstmal einer Person dient: derjenigen, die sich so verhält.

Das Adam-Smith-Problem

Kurzum: Die beiden betreffenden Werke von Smith sind bei näherem Hinschauen mehr auf Linie, als es das Adam-Smith-Problem glauben machen möchte. Sie lassen sich auch als Bestandteile eines großen, nie beendeten Gesamtwerkes der Sozialphilosophie interpretieren. Das Adam-Smith-Problem basiert so gesehen auf Unkenntnis und Missverständnissen hinsichtlich seiner Schriften. Das ist nicht meine Erkenntnis, sondern die von Fachleuten, die viel tiefer im Thema sind. Als weiterführende Lektüre empfehle ich das sekundärliterarische Werk Adam Smith – politische Philosophie und politische Ökonomie von Manfred Trapp aus dem Jahr 1987. Es beginnt mit dem Satz: »Es gab einmal ein Adam-Smith-Problem […]«

Theorie der ethischen Gefühle

Die Theorie der ethischen Gefühle kommt mit einem Untertitel daher, den heutige Marketing-Menschen als nicht-ganz-so-griffig bezeichnen würden. Er lautet:

Versuch einer Analyse der Prinzipien, mittels welcher die Menschen naturgemäß zunächst das Verhalten und den Charakter ihrer Nächsten und sodann auch ihr eigenes Verhalten und ihren eigenen Charakter beurteilen.

Smith unternimmt seine Analyse der Menschennatur mitten im 18. Jahrhundert. Als seine Theorie der ethischen Gefühle 1759 in zwei Bänden erscheint, ist der Siebenjährige Krieg in vollem Gange. Alle europäischen Großmächte mischen darin mit und liefern sich fortlaufend blutige Schlachten. Derweil weist der amtierende Papst auf Gefahren durch Korruption in der Kirche hin und Joseph Haydn komponiert seine Meisterwerke.

Die erste Welle der Frauenbewegung wird noch Jahrzehnte auf sich warten lassen, doch angestoßen vom Zeitgeist der Aufklärung ziehen emanzipatorische Gedanken bereits Kreise. Smith indes adressiert mit seinen Bemerkungen zum Verhalten und Charakter der Menschen noch merklich ein männliches Publikum. Frauen werden in ihrer Vorzeige-Funktion als »das schöne Geschlecht« herangezogen (S. 38, 547). Ihnen komme zwar Menschlichkeit zu, aber nicht der viel noblere Edelmut (307), stattdessen die Kraft zur Verführung (162) und ein Hang zur Eitelkeit (184). Ansonsten bezieht Smith sich in seiner Theorie der ethischen Gefühle gelegentlich auf »weibische Schwäche und Weichlichkeit« (71), die er dem »furchtsameren Geschlecht« (338) zuschreibt – und damit der Hälfte der Weltbevölkerung, die insgesamt noch unter einer Milliarde liegt.

Die Mitte des 18. Jahrhunderts markiert genau die Zeit, in der das Bevölkerungswachstum anfängt, sich drastisch zu beschleunigen. Und boom: 260 Jahre später gibt es über 7,7 Mrd. von uns – und damit werden Fragen des sozialen Zusammenlebens gelinge gesagt dringender. Sind die Erkenntnisse von Smith, abgesehen von seinem überholten Frauenbild, für den Menschen der Gegenwart noch gültig und relevant? Schauen wir mal.

Aufbau und Inhalt

Die Erstausgabe von Theorie der ethischen Gefühle erschien unter dem Titel Theory of Moral Sentiments – zu deutsch eher: Theorie der moralischen Gefühle. Mir scheint »moralisch« im Kontext mit Gefühlen auch der passendere Begriff zu sein.1 Die mir vorliegende Neuausgabe, auf die sich hier auch alle Seitenangaben beziehen, trägt dennoch den Titel Theorie der ethischen Gefühle und ist 2010 im Felix Meiner Verlag erschienen (siehe: Literaturverzeichnis). Die Einleitung zu dieser Ausgabe schrieb besagter Übersetzer Walther Eckstein. Eckstein geht seinerseits auch auf jenes Adam-Smith-Problem ein, das bei genauer Betrachtung – zitiere: »vollends in nichts« zusammenfalle. Er weist in der Einleitung noch darauf hin,

daß die zwei Hauptwerke von Smith nach dem Bericht seiner Biographen doch Teile eines Kurses über Moralphilosophie gewesen sind, so daß es von vornherein unwahrscheinlich erscheinen muß, daß Smith eine solche grundsätzlich verschiedene Einstellung in den beiden Werken zum Ausdruck bringen wollte.

Worum geht es nun in der Moralphilosophie von Mr. Smith? Die hier besprochene Ausgabe der Theorie der ethischen Gefühle basiert nicht auf der Erstausgabe von 1759, sondern auf der Ausgabe letzter Hand von 1790, die Smith überarbeitet und erweitert hat. Sie umfasst sieben Teile.

Erster Teil

Der erste Teil handelt von der Schicklichkeit oder sittlichen Richtigkeit der Handlungen, im Englischen »propriety of action«. Der Begriff »propriety« lässt sich auch mit »Angemessenheit« übersetzen. Woher wissen wir, was richtig im Sinne von angemessen oder eben schicklich ist?

Wenn wir […] über irgendeinen Affekt das Urteil fällen, er sei der Ursache, die ihn ausgelöst hat, angemessen oder unangemessen, dann ist es kaum möglich, daß wir uns hierzu irgendeiner anderen Richtschnur […] bedienen als der entsprechenden Gemütsbewegung in uns selbst.

S. 23

Ein zentraler Begriff bei Smith ist die »Sympathie«. Gemeint ist »unser Mitgefühl mit jeder Art von Affekten« (S. 8, wobei sich im weiteren Kontext des Werks zeigt, dass mit »Sympathie« weniger das Mitgefühl selbst gemeint ist, als die Fähigkeit des Mitfühlens oder Nachempfindens von Affekten). Affekte sind Gefühlswallungen wie Lachen, Weinen oder Wutausbrüche. Entscheidend für Sympathie, damit sie funktioniert, ist laut Smith nicht der reine Anblick eines Affektes – etwa eines weinenden Menschen – sondern ein Nachvollziehen der Situation dieses Menschen – also dem Grund für die Tränen. Smith bemerkt:

Die Menschen sind zwar von Natur mit Sympathie begabt, aber niemals fühlen sie für dasjenige, was einem anderen zugestoßen ist, jene gewaltige Leidenschaft, wie sie naturgemäß denjenigen erfüllt, der selbst von dem Ereignis betroffen wurde.

Smith vergleicht das Phänomen mit unserem Sichtfeld. Ein Gegenstand, den ich mir kurz vors Gesicht halte, erscheint mir größer, als wenn er weit weg liegt. Kalt ausgedrückt: Ein Mückenstich am eigenen Körper juckt mich mehr, als der Messerstich in einen anderen Körper. Wie lässt sich von dieser Tatsache her eine sittlich richtige, also angemessene Handlung vollziehen? Dazu schlägt Smith die Idee eines »unparteiischen Zuschauers« vor. Und wie tickt der so?

Der unparteiische Zuschauer

Seine Sympathie für die Person, welche jene Affekte fühlt, trifft genau mit seiner Anteilnahme für denjenigen zusammen, auf den sich diese Affekte richten. – S. 58

Das heißt, dieser gedachte, unparteiische Zuschauer bringt der Person A, welche die Affekte fühlt (also zum Beispiel einen Wutausbruch hat) genauso viel Mitgefühl entgegen, wie Person B, auf die sich die Affekte (die Wut) richten. Klingt leichter, als es ist.

Zweiter Teil

Im zweiten Teil geht es, wie gesagt, um die Kategorien Verdienst und Schuld, dazu später mehr.

Dritter Teil

Im dritten Teil der Theorie der ethischen Gefühle schreibt Smith über die Grundlage der Urteile, die Menschen über ihre eigenen Gefühle und Verhaltensweisen fällen, womit sie zu Beobachtenden ihrer selbst werden. Kurzgesagt: Du urteilst über dein Verhalten so, wie es andere Personen vernünftigerweise tun würden. Dieser Teil handelt auch vom Pflichtgefühl.

Daß die Schrecken der Religion das natürliche Pflichtgefühl verstärken sollten, das war für die Glückseligkeit der Menschen von viel zu großer Wichtigkeit, als daß die Natur dies hätte von der Langsamkeit und Ungewißheit philosophischer Untersuchung sollen abhängen lassen. – S. 262

Rücksicht auf die Religion

Nur am Rande: Wie Smith hier der Natur eine Art Intention unterstellt, tut er das im Verlauf seiner Theorie oft – und benutzt den Begriff »Natur« geradezu als Synonym für »Gott«. Er schreibt etwa »die Natur selbst lehrt uns« (S. 10), »die Natur [habe] die Zuschauer gelehrt« (30) und »So wurde der Mensch, der nur in Gesellschaft bestehen kann, von der Natur jener Situation angepaßt, für die er geschaffen war« (137). Eckstein weist auf eine Rezension aus dem Jahr 1759 hin, in der »die strengste Rücksicht auf die Prinzipien der Religion« in Smiths Theorie lobend hervorgehoben wird, sodass »ein ernster Leser nichts finden wird, woran er […] Anstoß nehmen könnte.« Erst in einer späteren Auflage fügte Smith den Satz ein:

In jeder Religion und in jedem Aberglauben, die die Welt jemals gesehen hat, hat es einen Tartarus gegeben ebenso wie ein Elysium, einen Ort, der vorgesehen war für die Bestrafung der Bösen, ebenso wie einen Ort für die Belohnung der Gerechten.

Über das Vorhandensein sowohl solch skeptisch anmutender Passagen als auch eher religiöser Bemerkungen bei Smith geht Eckstein in seiner Einleitung ausführlicher ein.

Vierter Teil

Im vierten Teil befasst sich Smith mit dem Einfluss der Nützlichkeit auf das Gefühl der Billigung (etwas zu billigen heißt, etwas für gut zu befinden). Insbesondere philosophisch ambitionierte Menschen laufen laut Smith Gefahr, tugendhaftes Verhalten hinsichtlich seines Nutzens für die Gesellschaft zu billigen. Tatsächlich aber seien es verschiedene Institutionen, die einen gesellschaftlichen Nutzen bringen, wenn sie sich denn auf bestimmte Tugenden hin ausrichteten. Vielleicht lässt sich hier von einem Kategorienfehler sprechen, den Smith unterstellt. »Eine Begründung der Moral aus dem Nutzen«, so schreibt Manfred Trapp in seinem Buch über Smith, lehne dieser jedenfalls »aufs schärfste ab«.

Fünfter Teil

Im fünften Teil widmet Smith sich dem Einfluss von Brauch und Mode auf unsere Begriffe von Schönheit und Hässlichkeit sowie auf unsere moralischen Gefühle. Hier erfahren wir, wie eine schöne Nase geformt sein muss, nämlich: »Weder sehr lang, noch sehr kurz, weder sehr gerade, noch sehr krumm […], sondern eine Art von Mittleren zwischen all diesen Extremen« (S. 320). Smith führt den Gedanken weiter: 

Innerhalb jeder Gattung von Geschöpfen [trägt] das schönste am deutlichsten die Merkmale der Grundbildung der Gattung an sich und besitzt die größte Ähnlichkeit mit der Mehrzahl der Individuen […] daher kommt es, daß eine gewisse Übung und Erfahrung in der Betrachtung jeder Art von Objekten erforderlich ist, bevor wir über ihre Schönheit ein Urteil fällen oder also, bevor wir wissen können, worin die […] gewöhnlichste Form in dieser Gattung besteht.

S. 321

Mit anderen Worten: »schön« ist, was Mainstream ist – und wonach richtet sich der Mainstream? Nicht selten nach den Reichen, die bekanntlich auch die Schönen sind. Problematisch wird es dann, wenn ebenso unsere Vorstellung von »gut« oder »tugendhaft« daher rühren, was die Reichen so treiben (#trumping). Brauch und Mode verzerren die Moralvorstellungen der Allgemeinheit, weshalb Smith diese von jenem gedachten, unparteiischen Zuschauer unterscheidet.

Sechster Teil

Im sechsten Teil stellt Smith abschließend die Frage »Wen nennen wir tugendhaft?« und geht dazu auf eine Reihe von Tugenden ein, um im siebten Teil zu guter Letzt einige Systeme der Moralphilosophie vorzustellen. Das Ergebnis ist eine Übersicht, die laut Eckstein zu »den wertvollsten Teilen des Buches gehört, und die man mit Recht als ein Meisterstück wahrhaft produktiver Kritik bezeichnen« könne. Darin geht es u. a. um Tugend bei Aristoteles sowie Epikureismus und Stoizismus.2

Soviel zum allgemeinen Aufbau und Inhalt der Theorie der ethischen Gefühle von Smith. Zuletzt widmen wir uns nun dem zweiten Teil nochmal im Detail.


Zur Erinnerung: Im ersten Teil seiner Abhandlung setzte sich Smith damit auseinander, worin die Schicklichkeit von Handlungen besteht. Dabei ging es um das Handeln im Allgemeinen. Dieses ist schicklich im Sinne von angemessen, wenn eine Person sich einerseits von ihren Gefühlen leiten lässt (und damit anderen, Sympathie-fähigen Menschen die Möglichkeit gibt, ihr Handeln nachzuvollziehen) und die sich andererseits nicht von ihrem persönlichen Vorteil leiten lässt (dazu führte Smith die Instanz des unparteiischen Zuschauers ein).

Zweiter Teil im Detail

Im zweiten Teil geht es nun um das Handeln in einem engeren, und zwar moralischen Sinne. Damit kommen wir zum Kern der Theory of Moral Sentiments. Wann ist eine Handlung moralisch gut oder verwerflich, also lobens- oder strafwürdig? Lobenswürdigkeit (Verdienst) und Strafwürdigkeit (Schuld) sind für Smith zwei Eigenschaften von Handlungen, die von der Eigenschaft der Schicklichkeit, kategorial zu unterscheiden sind. Smith schreibt:

Diejenige Handlung muß uns Belohnung zu verdienen scheinen, die sich als der schickliche […] Gegenstand jener Empfindung darstellt, welche uns […] geradezu antreibt, einen anderen zu belohnen […]. Und ebenso muß uns diejenige Handlung Bestrafung zu verdienen scheinen, die sich uns als der schickliche […] Gegenstand jenes Gefühls darstellt, das uns […] geradezu antreibt, einen anderen zu bestrafen […].

Dankbarkeit und Vergeltungsgefühl

Mit der ersten Empfindung ist die Dankbarkeit gemeint, mit der zweiten das Vergeltungsgefühl. Belohnen ist das Wiedererstatten von Gutem für Gutes. Bestrafen ist das Wiedererstatten eines Übels für ein anderes Übel, das zugefügt worden ist. Smith sagt, eine Handlung muss uns einer Belohnung würdig – moralisch gut – erscheinen, wenn sie uns Dankbarkeit empfinden lässt. Und sie muss uns einer Bestrafung würdig – moralisch verwerflich – erscheinen, wenn sie unser Verlangen nach Vergeltung weckt. So gesehen beruht unser moralisches Urteil über eine bestimmte Handlung auf unserem Gefühl für die Schicklichkeit des Handelns im Allgemeinen. Genau genommen nicht unserem Gefühl, sondern dem jenes unparteiischen Zuschauers, in den wir uns hineinversetzen müssen.

Absichten und Folgen

Dankbarkeit und Vergeltungsgefühl unterscheiden sich von anderen Affekten wie Liebe und Hass dadurch, dass wir nicht bloß Anteil nehmen, an jemandes Glück oder Unglück. Es geht auch nicht darum, dass wir uns wünschen, jemandem komme allgemein Glück oder Unglück zu. Gefühle der Dankbarkeit oder Vergeltung verlangen eine Wiedererstattung für und mit Bezug auf genau jene Wohltat oder Untat, die besagte Affekte in uns hervorgerufen haben. Immer unter der Voraussetzung, dass eine unparteiische Allgemeinheit diese Affekte nachempfinden kann und eine Wiedererstattung für vernünftig befindet – in Kenntnis über die Ursachen der Handlungen.

Wir erinnern uns, dass wir zur Beurteilung der Schicklichkeit einer Handlung nicht nur die damit verbundenen Affekte betrachten dürfen. Wir müssen die Situation der handelnden Person berücksichtigen. Bei der moralischen Handlung geht es nun um die Schicklichkeit in Bezug auf die Intention der handelnden Person. Das heißt, um eine Handlung als moralisch gut oder verwerflich bewerten zu können, betrachten wir nicht die tatsächlichen Folgen der Handlung, sondern die beabsichtigten Folgen. Ist ja toll, dass du der Oma über die Straße geholfen hast – wenn sie aber nur mitgeschleift wurde, bei deinem gescheiterten Versuch, ihre Handtasche zu klauen: Nicht so toll.

Eine Frage der Beweggründe

Smith fasst es in der Theorie der ethischen Gefühle so zusammen:

Wir sympathisieren also nicht […] mit der Dankbarkeit eines Menschen gegen einen anderen […], weil dieser andere der Urheber des Glücks jenes Menschen gewesen ist, sondern nur dann, wenn er dieses Glück aus Beweggründen herbeigeführt hat, denen wir […] zustimmen können.

S. 114

Umgekehrt können wir das Vergeltungsgefühl einer Person gegen eine andere nur nachvollziehen, wenn die andere Person nicht bloß die Urheberin des Unglücks der ersten Person ist, sondern dieses Unglück auch herbeiführen wollte. Kann ja sein, dass die Pflegerin jener Oma nach deren stressigem Spaziergang die falschen Tabletten zum Dinner serviert, woraufhin die Oma einschläft und nicht mehr aufwacht. Ob das aus Versehen oder Absicht geschah, ist für unser moralisches Urteil fundamental.

Direkte und indirekte Sympathie

Smith unterscheidet zwischen einer direkten und einer indirekten Sympathie. Kraft unserer direkten Sympathie empfinden wir eine Handlung als angemessen oder schicklich – auch die gute Tat einer handelnden Person gegenüber einer dritten. Doch zur Nachempfindung der Dankbarkeit dieser dritten Person mischt sich zur direkten Sympathie eine indirekte Sympathie. Diese muss nicht schwächer sein, als die direkte Sympathie. Sie kann zuweilen gar lebhafter gefühlt werden. Smith nennt als Beispiel unsere direkte Antipathie gegen einen Tyrannen, der sein Volk misshandelt. Ungleich energischer fühlen wir die indirekte Sympathie mit dem Vergeltungsgefühl des Volkes und wünschen mit diesem, dass der Tyrann bestraft werde.

Eine Frage nach Tatsachen

In einer Anmerkung schreibt Smith jedoch, dass Vergeltung gemeinhin als hassenswert gelte. Viele Menschen wollten dieses Gefühl nicht in Zusammenhang gebracht sehen, mit dem höher geschätzten Gefühl der Tadelnswürdigkeit. Denn es ist doch nur gerecht, eine Person für Untaten zu tadeln. »Vergeltung« hingegen hat einen hitzigen Beigeschmack. Wenn sie gar in Rachsucht umschlägt, verabscheuen wir sie geradezu. Die geforderte Vergeltung muss auf ein nachvollziehbares Maß angepasst sein, um breite Zustimmung zu finden. Und wir wissen ja, wie schwer es den Menschen fällt, sich in Mäßigung zu üben. Daher bringen wir Bewunderung für diejenigen auf, denen es gelingt: Selbstbeherrschung ob der eigenen Vergeltungsgefühle.

Stört es dich auch, dass Smith unser Gefühl der Tadelnswürdigkeit von Handelnden einer Sympathie mit dem Vergeltungsgefühl von Leidtragenden zuschreibt? Vielleicht versöhnt dich der Hinweis, dass unser Gefühl der Verdienstlichkeit bestimmter Handlungen gleichermaßen einer Sympathie mit der Dankbarkeit anderer entspringt – woran doch nichts auszusetzen ist. Und da Dankbarkeit und Vergeltungsgefühl offensichtlich Gegensätze sind, schließt sich der Kreis. Sei’s drum: Smith weist an dieser Stelle eh klar darauf hin, dass seine Untersuchung keine Frage des Sollens betreffe, sondern eine Frage nach Tatsachen.

Wir untersuchen hier nicht, nach welchen Grundsätzen ein vollkommenes Wesen die Bestrafung von Missetaten billigen würde, sondern nach welchen Grundsätzen ein so schwaches und unvollkommenes Geschöpf, wie der Mensch ist, sie wirklich […] billigt.

S. 122

Im zweiten Abschnitt des zweiten Teils vergleicht Smith die Tugenden Gerechtigkeit und Wohltätigkeit miteinander, hinsichtlich ihrer Folgen für andere.

Die Tugend der Wohltätigkeit

Die Wohltätigkeit ist ein positives Handeln. Sie zielt darauf ab, anderen Menschen etwas Gutes zu tun. Da dies aus freien Stücken geschieht (sonst handelt es sich nicht um Wohltätigkeit) lässt sich dafür auch keine Dankbarkeit einfordern. Der unparteiische Zuschauer würde es gewiss missbilligen, wenn jemand, dem eine Wohltat widerfährt, sich dafür nicht dankbar zeigt. Denn Dankbarkeit gegenüber wohltätigen Mitmenschen erscheint angemessen.

Dennoch fügt jener Undankbare durch seine Undankbarkeit niemandem einen positiven Schaden zu – und handelt somit, im moralischen Sinne, nicht strafwürdig. Trotzdem kennen wir das Konzept der Dankesschuld, jemandem Dank schuldig sein. Das werfen wir auch nicht über Bord, sondern wenden es bloß nicht gegenüber Wohltätigkeit an. Ebenso wenig gibt es eine Schuld der Menschenliebe oder des Edelmutes, aufgrund derer wir irgendwem Wohltätigkeit schuldig wären. Anders sieht da es mit der Tugend der Gerechtigkeit aus.

Die Tugend der Gerechtigkeit

Die Gerechtigkeit ist ein negatives Handeln. Sie zielt darauf ab, anderen Menschen nichts Böses zu tun. Wer sich an diese Tugend nicht hält, fügt einer bestimmten Person einen positiven, also wirklichen Schaden zu. Deshalb sei ungerechtes Handeln auch »der angemessene Gegenstand des Vergeltungsgefühls und auch der Bestrafung«, welche die naturgemäße Folge des Vergeltungsgefühls darstellt«, so Smith (S. 126). Er schreibt auch:

Das Vergeltungsgefühl scheint uns von Natur aus und nur zur Verteidigung verliehen zu sein.

Aber wo zieht Smith die Grenze zwischen nur tadelnswert und schon bestrafungswürdig? Tadelnswert erscheine, was hinter einem gewöhnlichen Grad sittlich richtiger Wohltätigkeit zurückbleibt, den wir erfahrungsgemäß von jeder Person erwarten dürften. Was über diesen Grad hinausgeht, erscheint lobenswert. Strafbar macht sich ein Mensch erst im Ungehorsam, so Smith. Als Beispiel nennt er die Befehle eines Landesherrn, gegen die nicht zu verstoßen sei. Doch zwei Sätze später spricht er schon allgemeiner vom Gesetzgeber, der sich bei Zuwiderhandlung gegen die Gesetze nicht zu sehr in Zurückhaltung üben dürfe. Die Strafbarkeit gewisser Taten zu vernachlässigen, »hieße das Gemeinwesen mancherlei groben Ordnungswidrigkeiten und anstößigen Freveln aussetzen«, was »verderblich für alle Freiheit, Sicherheit und Gerechtigkeit« sei (S. 130).

Drei Momente einer Handlung

Im dritten und letzten Abschnitt des zweiten Teils schreibt Smith »über den Einfluß des Zufalls auf die Empfindungen der Menschen in Hinsicht der Verdienstlichkeit oder Tadelnswürdigkeit«. Er benennt drei Momente einer jeden Handlung: erstens die Absicht oder innere Gesinnung, zweitens die äußere Tat oder Körperbewegung infolge dieser Gesinnung und drittens die guten oder bösen Folgen, die tatsächlich aus ihr hervorgehen. Eindrucksvoll formuliert Smith:

Derjenige, der nach einem Vogel schießt, vollführt die gleiche äußere Bewegung wie der, der einen Menschen erschießt: beide ziehen den Hahn eines Gewehres ab. Die Folgen, die wirklich und tatsächlich aus einer Handlung hervorgehen, sind sogar […] noch belangloser für Lob oder Tadel als die äußere Körperbewegung. – S. 148

Wie vorhin gesagt: Unsere moralischen Urteile sollten sich vernünftigerweise nur auf die Absicht oder Intention der handelnden Person richten. Nochmal Smith:

[…] auf die Schicklichkeit oder Unschicklichkeit, die Nützlichkeit oder Schädlichkeit des Vorhabens muß sich in letzter Linie alles Lob und aller Tadel, alle Billigung oder Mißbilligung […] richten, die mit Recht einer Handlung zuerkannt werden können.

Das Drama des Lebens

Dem müsse ein jeder Mensch zustimmen. Doch das ist graue Theorie. »[…] die Betonung, daß moralisches Handeln gewollt sein muß«, so kommentiert es Manfred Trapp, »soll keiner reinen Gesinnungsethik das Wort reden, die unabhängig von den äußeren Wirkungen des Handelns wäre.« Smith erkenne, dass moralisches Handeln keine bloße Absicht sein und bleiben könne, die sich nirgendwo äußere. Er bespricht drei Arten oder Grade von Fahrlässigkeit im menschlichen Handeln, im Zusammenhang mit der Vorsicht unseres Vorgehens, und misst dem Zufall seine gebührende Bedeutung im Drama des Lebens bei.

Der Jammer, den ein schuldloser Mensch fühlt, der durch irgendwelchen Zufall dazu gebracht wurde, etwas zu tun, was ihn mit Recht den bittersten Vorwürfen ausgesetzt hätte, wenn es mit Wissen […] geschehen wäre, dieser Jammer hat den […] Stoff zu einigen der feinsten […] Szenen des antiken und modernen Schauspiels geboten.

S. 174

Smith nennt Ödipus als Beispiel. Heute könnten wir Jon Snow aus Game of Thrones nennen, denn er wusste doch nicht, was er tat, als er die Drachenmutter erst [beep!] und dann [beep!] – na, ich will ja nicht spoilern. Zufall hin oder her, »man was made for action«, schreibt er, der Moralphilosoph Adam Smith.

Der Mensch ist zum Handeln geschaffen und ist dazu bestimmt, durch die Betätigung seiner Fähigkeiten solche Veränderungen in den äußeren Verhältnissen […] herbeizuführen, wie sie für die Glückseligkeit aller am günstigsten scheinen mögen.

S. 172

Fußnoten

  1. Hier geht’s zu einem Beitrag über Moral und Ethik und worin der Unterschied zwischen diesen Begriffen besteht (Links folgen in Kürze).
  2. Hier geht es zu eigenen Beiträgen über Tugend bei Aristoteles sowie über Epikureismus und Stoizismus (Links folgen in Kürze).

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