Die Songs von M.I.A. sind weltbekannt. Bad Girls, Borders und Paper Planes ganz vorne weg. Doch was weißt du über die Künstlerin hinter den Hits? Beginnen wir mit den Basics. Wo ist MIA aufgewachsen?
MIA ist in Sri Lanka aufgewachsen, der Heimat ihrer Eltern. Geboren wurde sie allerdings – als Mathangi »Maya« Arulpragasam – in London, wohin Maya mit ihrer Mutter und Schwester später auch wieder geflohen ist. Da war Maya aka M.I.A. gerade 11 Jahre alt.
Als Mädchen suchte Mathangi im Strudel der Kulturen vermittels Kunst einen Sinn und fand ihre Stimme. Eine Stimme, die heute Millionen Menschen kennen. 🎤 Was ist aus MIA geworden?
Aus MIA ist eine berühmte Rapperin und Sängerin geworden. Ebenso eine politische Aktivistin, die ihre Botschaften oft in ihrer Musik verpackt. Die Lieder von M. I. A. handeln von den Schattenseiten einer von Krieg und Vertreibung geprägten, globalisierten Welt.
Es gibt eine bemerkenswerte Doku über diese Ausnahme-Künstlerin: Matangi/Maya/M.I.A. aus dem Jahr 2018. Darin geht es weniger um die Karriere der Rapperin, als um den Werdegang der Aktivistin.
Im Folgenden soll Matangi/Maya/M.I.A. genauer unter die Lupe genommen werden – denn diese Doku ist anders.
📌 Tipp: Filmkritiken in Bild und Ton findest du auf meinem YouTube-Kanal. Wie du selbst eine Filmkritik schreibst, lernst du in diesem Praxis-Guide.
Matangi/Maya/M.I.A.
Es kommt selten vor, dass jemand aus der Gen X – geboren 1975 – mit einer Handkamera im Vlog-Format das eigene Leben dokumentiert. Lange bevor es YouTube und Smartphones gibt.
Viel Material ist dabei entstanden. 📹 Viele Jahre hat es gedauert, daraus ein zusammenhängendes Werk zu basteln. Doch endlich ist es da. Ein tiefer Einblick ins bewegte Leben einer entwurzelten Frau.
Eine verspätete Dokumentation über M.I.A.’s Leben ist in Arbeit – immer noch mit dem Regisseur Steve Loveridge, obwohl er zuvor alles fallen gelassen hatte, mit der Aussage: Er werde lieber sterben, als daran weiterarbeiten. (Quelle)
Hat man Matangi/Maya/M.I.A. erst einmal gesehen, lässt sich ahnen, warum’s so lange gedauert hat. M.I.A. ist aus der Distanz und in Ausschnitten schwer zu begreifen, zu fassen.
Kaum glaubt man, eine halbwegs klare Vorstellung zu haben, tut sich auch schon eine neue Facette auf. Und am Ende sind es nur 97 Minuten. Verdammt wenig Zeit für 22 energische, ereignisreiche Lebensjahre, die darin erzählt werden.
Gefeiert und verbannt
Der Einstieg zur Doku Matangi/Maya/M.I.A. hat etwas Traum- und Rauschhaftes. Grüne Lichter zeichnen sich aus der Dunkelheit ab, wie Glühwürmchen oder Laserpunkte, wabernd im Schwarz.
Die Lichter deuten vage einen Untergrund an, ein Gesicht vielleicht? Etwas tanzt, jemand singt:
My lines are down, you can’t call me / As I float around in space odyssey
Zeilen aus dem Song Space, dem letzten Track des ungooglebaren Albums /\/\ /\ Y /\ aus dem Jahr 2010. Da war M.I.A. bereits ein gefeierter Popstar – und von YouTube verbannt für das Musikvideo zu ihrem Song Born Free. Zu gewaltsam, zu krass sei es.
Inzwischen ist Born Free, mit einem Warnhinweis wegen drastischer Bilder, wieder online (hier) Das Album beschrieb die Sängerin als »eine Mischung aus Babys, Tod, Zerstörung und Machtlosigkeit.« (Quelle)
Kunst als Repräsentation der Gesellschaft, darum geht es M.I.A., seit sie – noch als die Studentin Mathangi Arulpragasam – zur Central Saints Martins Kunsthochschule (CSM) in London gegangen sei. In ihrem Buch aus dem Jahr 2012 (hier erhältlich) schreibt sie:
Der Tag, an dem ich an der CSM meinen Abschluss machte, bekam ich einen Anruf. Man sagte mir, mein Cousin sei vermisst.
Missing in Action (M.I.A.)
Ihr Cousin – im gleichen Alter von Mathangi – kämpfte zu der Zeit im sri-lankischen Bürgerkrieg, vor dem Mathangis Mutter mit ihren Kindern schon vor Jahren nach Groß-Britannien geflohen war.
Der Bürgerkrieg in Sri Lanka, der von 1983 bis 2009 und damit über 25 Jahre andauerte, wurde zwischen tamilischen Separatisten im Norden des Landes und der Regierung ausgetragen.
Auf Seiten der Separatisten stand vor allem die Gruppe der LTTE (Liberation Tigers of Tamil Eelam, auch: Tamil Tigers genannt). Diese Gruppe wurde aufgrund von Selbstmord-Attentaten, ethnischen Säuberungen und der Rekrutierung von Kindersoldaten als »terroristische Vereinigung« eingestuft.
Auf der anderen Seite stand die sri-lankische Regierung. Die wurde erst Jahre nach dem Kriegsende vom internationalen, unabhängigen »Permanenten Völkertribunal« schuldig gesprochen für den Genozid gegen die tamilische Bevölkerung durch Regierungstruppen im sri-lankischen Dschungel.
In der Doku Matangi/Maya/M.I.A. sehen wir M.I.A. auf TV-Bilder stoßen, die junge Frauen ihrer Generation in Uniform zeigen – verstrickt im undurchsichtigen Dschungelkrieg.
»Das wäre ich, wenn ich geblieben wäre«, wird ihr klar, ehe sie fragt: »Warum war ich es, die entkommen ist?«
Jener Cousin war derweil »vermisst im Gefecht« (»missing in action«, kurz: M.I.A.). So etwas sei in diesem Krieg andauernd passiert, schreibt die Künstlerin, die sich eben dieses Kürzel schließlich als Pseudonym gab.
Es gibt keine Beerdigung. Es gibt keine Leiche. Du bekommst kein offizielles Schreiben, das heißt: Diese Person stirbt niemals wirklich. […] Daraus entstand dieser Brauch von Mythen, die am Leben gehalten werden, damit die Mütter damit umgehen konnten.
Back to the Roots
Geboren wurde Mathangi Arulpragasam am 18. Juli 1975 in dem Londoner Stadtteil Hounslow – als Tochter der Schneiderin Kala und ihres Mannes Arul Pragasam, einem tamilischen Ingenieur, Schriftsteller und Aktivisten.
Als Mathangi sechs Monate alt war, zog die Familie nach Jaffna im Norden Sri Lankas. Dort gründete ihr Vater – ein alter Freund des militärischen Anführers der Tamil Tigers – seinerseits eine militante Vereinigung und wurde in den Bürgerkrieg involviert.
Die Familie musste sich vor den Regierungstruppen verstecken und verlor Kontakt zum Vater. Nach einem Zwischenaufenthalt in Indien – bereits auf der Flucht vor dem Krieg – zog die Familie Arulpragasam vaterlos zurück nach London.
Da war Mathangi, wie oben erwähnt, elf Jahre alt.
📌 Tipp: Eine andere britische Berühmtheit mit Migrations-Hintergrund war Farookh Bulsara aka Freddie Mercury. Mehr über ihn im Beitrag zu Bohemian Rhapsody.
In Folge der Nachricht vom Verschwinden ihres Cousins entschloss sich die studierte Künstlerin – nun Mitte zwanzig – zu einem Besuch der alten Heimat, in der sie ihre Kindheitsjahre verbracht hat.
Diese Reise hat sie selbst dokumentiert. »Ich wollte eine Dokumentarfilmerin werden«, erfahren wir zu Beginn von Matangi/Maya/M.I.A. – und tatsächlich lief ständig die Kamera mit.
Nicht erst auf Reisen, auch daheim in der Londoner Wohnung, wenn Mathangi mit ihren Geschwistern abhing. Gelangweilte Teenager, die nicht wissen, wohin mit ihrer Zeit. Reden, rumalbern, lesen.
In einer Szene erzählt das Mädchen Mathangi ihrer Schwester (die heutige Schmuck-Designerin Kali Arulpragasam) etwas über das Buch, das sie gerade in der Hand hält. 📖 Black Skin, White Masks (1952) von Frantz Fanon.
Kultureller Mashup
Kapitel Eins
DER SCHWARZE MANN UND DIE SPRACHE
Wir messen dem Phänomen der Sprache eine grundlegende Bedeutung bei. Daher gilt das Studium der Sprache als wesentlich, um uns des schwarzen Mannes Dimension vom »Sein-für-Andere« verständlich zu machen: Zu Sprechen heißt, für den Anderen absolut zu existieren. (Fanon 1952)
Zu solch literarischen Einflüssen über Rassismus und Kolonialgewalt kamen diverse musikalische Einflüsse. Sei es aus dem US-Mainstream (Madonna) oder seitens unbekannter Musiker auf MySpace. (Bevor MySpace selbst unbekannt wurde.)
Auf MySpace stieß M.I.A. auf den 19-jährigen Nigerianer namens »Africa Boy«. Den besuchte sie zusammen mit dem Regisseur Spike Jonze (Her). Kleiner Mitschnitt davon (englischsprachig):
Auch das ist ein Kapitel in Matangi/Maya/M.I.A. Die Doku zeichnet nach, wie aus dem kulturellen Mashup, dem Matangi von klein auf ausgesetzt war, ihr eigener einflussreicher Style hervorgegangen ist – stets begleitet von der Mission, ihre Stimme gegen Unrecht zu erheben.
They cornered ’im / And Then Just Murdered ’im / He told them he didn’t know them / He wasn’t there they didn’t know him / They showed him a picture then / Ain’t that you with the muslims?
Sunshowers (2004)
Mach’ Musik, nicht Politik
Da sich M.I.A. auch als Fürsprecherin der Tamil Tigers in den Diskurs eingebracht hat, wurde ihr im Laufe ihrer Karriere der Vorwurf gemacht, Terroristen zu unterstützen.
Die Tamil Tigers von Sri Lanka sind eine der am besten organisierten und brutalsten terroristischen Gruppen der Welt. Sie haben die Selbstmordweste erfunden und sind nach Angaben des FBI die einzige Terrorgruppe, die zwei »world leader« ermordet hat.
Die im Norden und Osten Sri Lankas ansässigen Rebellen führen seit mehr als 20 Jahren immer wieder gewalttätige Offensiven gegen die Zentralregierung durch.
Kate Pickert: The Tamil Tigers (2009, Quelle)
Doch M.I.A. möchte auf die Verbrechen der anderen Seite hinweisen. Soldaten der Regierung Sri-Lankas, die nackte, gefesselte Menschen im Wald erschießen. Davon gibt es Videoaufnahmen.
M.I.A. weist auf Bildmaterial von erhängten Kindern hin und beklagt den Völkermord gegen ihre tamilischen Landsleute, lange bevor jenes Tribunal nach dem Krieg sein Urteil spricht.
Davon handelt Matangi/Maya/M.I.A. in erster Linie:
Es geht um eine Entkommene, die Gerechtigkeit einfordert, während sie nebenbei immer bekannter wird. Und als sie zu Weltberühmtheit gelangt, will man sie singen hören – nicht reden.
M.I.A. ist eine große Künstlerin, und wir wünschen ihr alles Gute. Aber es tut mir leid – ich denke, sie ist falsch informiert, und es ist das Beste, dass sie bei dem bleibt, worin sie gut ist, nämlich Musik, nicht Politik.
Palitha Kohona, Sri Lankas Außenminister (2009, Quelle)
Westliche Empörung
Auch die Musikindustrie tut ihr Bestes, M.I.A. aufzuweichen, ihr den politischen Anstrich zu nehmen. Wann immer M.I.A. dagegen aufbegehrt, gibt’s den großen Eklat. Etwa, wenn sie in der Halbzeit-Show des Super Bowls den Mittelfinger zeigt. 🖕
Ein YouTube-Kommentar dazu (hier übersetzt):
Wenn man die Aufnahme genau an der Stelle pausiert, an der M.I.A. den Finger zeigt, kann man sehen, wie alle Tänzerinnen im Hintergrund mit weit gespreizten Beinen auf dem Boden liegen… Die großen Unternehmen sprechen vielleicht das falsche »Problem« an.
Dabei ist das größte Problem hier gar nicht zu sehen. Im westlichen Medienzirkus kann man sich eben viel besser empören über den Mittelfinger einer Migranten-Tochter (der Mittelfinger von Adele – hier – hat für weniger Ärger gesorgt), als über den Völkermord in weiter Ferne.
Die dokumentarische Beweisführung, die dieses Phänomen in Matangi/Maya/M.I.A. deutlich herausarbeitet, ist erdrückend.
Siehe zum Beispiel das Musikvideo zu dem Song Borders. Veröffentlicht wurde es im Februar 2016, anlässlich der Flüchtlingssituation in Europa und auf aller Welt.
In Reaktion auf das Video drohte der Fußballclub Paris Saint-Germain mit rechtlichen Schritten gegen M.I.A., die in einer Szene deren Trikot trägt, mit abgeändertem Schriftzug: Statt »Fly Emirates« (der Name des Hauptsponsors des Clubs) ist auf dem Shirt »Fly Pirates« zu lesen.
In dem Beschwerde-Schreiben des Clubs ist »vom Schaden, den wir erlitten haben« zu lesen. (Quelle) Über diesen Schaden wurde also im Zusammenhang mit Borders diskutiert – einem Song über Menschen, die um ihr Leben fliehen.
M.I.A. reagiert auf diesen »Eklat« im Interview mit Amy Goodman von Democracy Now! – hier zu sehen (englischsprachig):
Vertrauter Storyteller
Wer hat all das Home-Video-Material, die Konzertmitschnitte, Musikvideo- und Interviewschnipsel so gekonnt kombiniert? Es kann nur jemand sein, dem M.I.A. massiv vertraut. So sehr, dass sie dieser Person all ihre Kassetten übergibt.
Tatsächlich ist Steve Loveridge ein alter Freund. Wir sehen ihn mit Mathangi in einer Garage vor der Kamera Faxen machen. Er rauchend, im lachsfarbenen, übergroßen Hemd, sie in blauem Pulli. Da sind beide noch Studierende an der Kunsthochschule.
Loveridge hat auch das Vorwort zu ihrem Buch geschrieben. ✍️
Seit 2011, satte sieben Jahre lang, war die Doku Matangi/Maya/M.I.A. in der Mache. Hervorgegangen aus dem gewaltigen Archiv, das Steve Loveridge angesammelt hat.
Ganz klar: Loveridge ist im Team Mathangi. Diese Doku bemüht sich nicht um den objektiven Blick. Und da Matangi/Maya/M.I.A. grandios geschnitten ist, gelingt es ihr, 22 Jahre wirkungsvoll zu verdichten. Zuweilen auf Kosten der komplexen Wirklichkeit.
So wird ein Interview mit Bill Maher in einem Schnipsel gezeigt, der suggeriert, dass M.I.A. bei dem Talkshow Host abgewürgt wurde, als sie vom Genozid an der tamilischen Bevölkerung in Sri Lanka sprechen wollte.
Sieht man das Interview in der Langfassung (hier: Teil 1, Teil 2, englischsprachig), dann zeigt sich, dass M.I.A. durchaus die Gelegenheit bekam, auszureden und ihre Stimme zu erheben.
Fazit zu Matangi/Maya/M.I.A.
Wann immer man eine richtig gute, augenöffnende, aufwühlende Doku erlebt, bleibt der Verdacht, dass da einfach richtig gute Storyteller am Werke waren.
Auch Steve Loveridge wählt aus »über 1.000 Stunden an Footage« (Schätzung der Sängerin) einen Blickwinkel, bestimmte Ausschnitte, um eben diese Geschichte über M.I.A. zu erzählen – während andere ausgeklammert werden.
Bemerkenswert ist, dass diese Geschichte lange vor dem großen Durchbruch beginnen kann, weil so früh so viel Material von Mathangi aka Maya aka M.I.A. gesammelt wurde. Wer konnte schon ahnen, welche Plattform sie mal bekommen würde?
Alle sagen: »Du hast eine Plattform.« Aber was bedeutet das? Denn meine Platten werden begraben unter zig Labels, die man mir [als Kunstfigur] aufdrückt.
M.I.A. via NME (Quelle)
Die Sängerin selbst hat die finale Schnittfassung nach eigenen Angaben erst bei der Premiere auf dem Sundance Festival 2018 gesehen. Einerseits scheint sie nicht so glücklich mit dem Ergebnis: Es gehe ja kaum um ihre Musik! Stimmt.
Die Doku handelt nicht bloß vom oft erzählten Aufstieg eines Popstars. Andererseits überlegt M.I.A. inzwischen, sich selbst aus dem Musikgeschäft zurückzuziehen, weil ihre Message zu viel Zensur erfahre. Sie müsse einen anderen Weg finden, meint M.I.A.