In diesem Beitrag geht es um die Fragen: Was ist Wissen? Und wie erlangen wir Wissen? Dazu sollen verschiedene Positionen aus der Philosophie vorgestellt werden: der Empirismus und der Rationalismus – und den Skeptizismus ordnen wir grob ein.
Tipp: Aus (leider immer noch) aktuellem Anlass hier ein Beitrag zum Thema Wissen in Zeiten von Corona.
Wichtige Begriffe des Wissens
Was steht an? Erstens: Klärung der Begriffe. Zweitens: Blick in die Geschichte. Drittens: Gegenüberstellung der Gemeinsamkeiten, Unterschiede, Methoden und Ziele von Empirismus und Rationalismus. Als literarische Grundlage dienen Dominik Perlers Buch über René Descartes, aus der Beck’schen Reihe, sowie Hans Posers Einführung zu Descartes, aus Reclams Universal-Bibliothek. Beides lesenswerte Werke mit je eigenem Kapitel über Empirismus und Rationalismus. Und weil aller guten Dinge drei sind, schauen wir noch in das Buch Sofies Welt rein. 🌎
Alle Seitenangaben beziehen sich auf die Werkausgaben im Literaturverzeichnis.
Was ist Empirismus?
Klären wir zu Beginn ein paar Begriffe. Sofie, was ist Empirismus?
Ein Empiriker leitet alles Wissen über die Welt von dem her, was die Sinne uns erzählen. Die klassische Formulierung einer empiristischen Haltung stammt von Aristoteles, der sagte, nichts sei im Bewusstsein, was nicht zuvor in den Sinnen war.
Sofie in Sofies Welt, S. 307
Empirisch heißt, aus der sinnlichen Erfahrung gewonnen, etwa vermittels Versuche. Empirie, damit ist eine methodisch-systematische Sammlung von Daten gemeint. Der Begriff geht zurück auf das griechische Wort empeiría, das sich mit »Erfahrung« übersetzen lässt.
Das lateinische Wort ratio wiederum heißt so viel wie »Vernunft«.
Was ist Rationalismus?
[Der] starke Glaube an die menschliche Vernunft wird als Rationalismus bezeichnet. Ein Rationalist ist ein Mensch, der großes Vertrauen zur menschlichen Vernunft als Quelle unseres Wissens über die Welt hat.
Sofie in Sofies Welt, S. 45
Und dann gibt es noch diejenigen, die alles ganz genau von sämtlichen Seiten betrachten. Das griechische Wort für Betrachtung, Prüfung oder Untersuchung, das lautet sképsis.
Was ist Skeptizismus?
Auch wenn es vielleicht Antworten auf viele philosophische Fragen gibt, können die Menschen doch niemals wirklich sichere Antworten auf die Rätsel der Natur und des Universums finden […]. Ein solcher Standpunkt wird in der Philosophie als Skeptizismus bezeichnet.
Sofie in Sofies Welt, S. 79
Die Positionen, die heute Empirismus, Rationalismus und Skeptizismus genannt werden, sind viel älter, als die Begriffe selbst. Wie so oft, gehen die Ideen dahinter bis in die Antike zurück. 🏛
Kurze Geschichte des Wissens
Als berühmte Gegenüberstellung wird Platon mit seiner Ideenlehre als Rationalist und Aristoteles mit seinem Erfahrungswissen, wie gerade von Sofie, als Empirist bezeichnet. Ein Vertreter des Skeptizismus war Sextus Empiricus. Mehr über die antiken Philosophen erfährst du im Werk Leben und Meinungen berühmter Philosophen von Diogenes Laertius.
[…] doch mit einer solchen Rückwendung zur Antike würde man das Anliegen verfehlen, das Empirismus und Rationalismus eint: Beide suchen in skeptischer Absicht eine vom Individuum ausgehende Sicherung und Begründung aller Erkenntnisse – aller, nicht nur der Erfahrungswissenschaften und der Mathematik, sondern auch der Ethik als Begründung der Regeln menschlichen Handelns.
Hans Poser: René Descartes, S. 9
Na dann, springen wir in die Neuzeit, in der Erkenntnisfragen an Tiefenschärfe gewannen. Als Wegbereiter gelten Francis Bacon für den Empirismus und René Descartes für den Rationalismus.
Francis Bacon und die Induktion
Bacon schrieb das Neue Organon (1620), um das alte Organon von Aristoteles abzulösen. Der antike Denker hatte mit seinen logischen Schriften die Philosophie des Mittelalters – die Scholastik – geprägt. Obwohl wir Aristoteles im Vergleich zu Platon eben als Empirist bezeichnet haben, war seine Logik eine eher rationalistische Angelegenheit, ein System theoretischer Erwägungen. Den Kern dieses Systems bildeten Syllogismen, logische Schlüsse, bei denen aus Prämissen eine Folgerung gezogen wird. Bacon schrieb dazu:
Der Syllogismus besteht aus Sätzen; die Sätze bestehen aus Worten; die Worte sind die Zeichen der Begriffe. Sind daher die Begriffe, welche die Grundlage der Sache bilden, verworren und voreilig von den Dingen abgenommen, so kann das darauf Errichtete keine Festigkeit haben. Alle Hoffnung ruht deshalb auf der wahren Induktion.
Francis Bacon, Aphorismus 14
Induktion heißt: Ich nehme in der Natur etwas wahr, entdecke darin ein Muster, suche nach einer Regel und stelle auf dieser Grundlage eine Behauptung auf. Beispiel: Diese Schildkröte hat vier Beinchen – und tausend andere ebenso.
Die Regelmäßigkeit von vier Beinchen bei Schildkröten bestätigt sich durch Betrachtung noch weiterer Exemplare. Daher behaupte ich: Alle Schildkröten haben vier Beinchen. Auch die Induktion ist schon seit Aristoteles bekannt. Dennoch stellte Bacons Werk, das Neue Organon, in seiner Betonung des Erfahrungswissens eine Wende zwischen mittelalterlichem und neuzeitlichem Denken dar.
Das Comeback der Skepsis
In der Neuzeit sind jedoch auch die Schriften der antiken Skeptiker wieder in Mode gekommen. Dieser Skeptizismus brachte so klassische Beispiele hervor wie das von dem Stock, den du ins Wasser reinhältst. Durch die Oberfläche wirst du ihn – aufgrund einer optischen Täuschung – gebrochen oder wellenförmig sehen, mit deinen eigenen Augen! Sind das die gleichen Augen, mit denen du Schildkröten zählst!? 🧐 Noch ein Beispiel:
Wie kannst du jemals deinen trügerischen Sinnen vertrauen? Hinzu kam in der Neuzeit auch ein religiös motivierter Skeptizismus. Denn im Zuge der Reformation spaltete sich das Christentum gerade in verschiedene Gruppen oder Konfessionen auf.
Die Grundfrage dieser skeptischen Strömung lautete: Können wir noch den Anspruch erheben, über irgendein Wissensfundament zu verfügen, wenn selbst die grundlegenden Aussagen über den Glauben und die Funktion der Kirche von unterschiedlichen Glaubensgruppen unterschiedlich interpretiert werden?
Dominik Perler: Descartes, S. 70
René Descartes und die Deduktion
Gegen solche ultimative Skepsis wollte Descartes etwas unternehmen. Um das Wissen auf ein sicheres Fundament zu stellen, schrieb er etwa die Meditationen (1641). Descartes kritisierte seinerseits das aristotelisch geprägte Denken des Mittelalters. Dennoch war seine Methode (ähnlich wie die Syllogismen) selbst eher deduktiv angelegt. Deduktion heißt: Ich suche eine allgemeine Wahrheit und leite davon logische Konsequenzen ab. Über Descartes’ Methode geht es ausführlich im Beitrag über Provisorische Moral.
Weitere wichtige Namen waren Hobbes, Locke, Berkeley und Hume auf Seiten des Empirismus. Es gibt den Begriff vom englischen Empirismus, weil die meisten dieser Herren aus England kamen. Auf Seiten des Rationalismus gab’s noch Malebranche, Geulincx, Spinoza, Leibniz und Wolff. Das waren Herren aus Frankreich, den Niederlanden und Deutschland, daher der Begriff vom kontinentalen Rationalismus. Keiner dieser Denker meinte wohlgemerkt, dass Wissen nur mit dem Verstand und ganz ohne die Sinne zu erlangen sei. Oder, dass es nur die Sinne bräuchte und keinerlei Verstandes. Auch Descartes, oft Urvater des Rationalismus genannt, hat Experimente durchgeführt und die Natur studiert.
Die Frauen der Neuzeit
So viel zur Geschichte hinter der Frage: Was ist Wissen? Gab’s in dieser Geschichte gar keine Frauen? Doch, schon. Für Frauen lautete die Antwort zu »Wie erlange ich Wissen?« allerdings eher: Indem ich mich als Mann verkleide und hoffe, an der Uni nicht aufzufliegen. So eine Idee der 16-jährigen Juana Inés de la Cruz im 17. Jahrhundert. Die Familie hat’s aber, trotz ihrer Begabung, verboten.
Tipp: Hier geht’s zu einem Beitrag der Encyclopædia Britannica über Juana Inés de la Cruz (Englisch).
Die Frauen der Neuzeit, egal ob in Mexiko, dem Morgenland oder mitten in Europa, lernten und wirkten aufgrund des Patriarchats wenn überhaupt, dann im Hintergrund. Etwa durch Briefe. So stand Descartes im Kontakt zur Prinzessin Elisabeth von der Pfalz. Deren Gedanken zu den Meditationen haben wiederum zu seinem Werk Die Passionen der Seele geführt. Und Leibniz wurde in seinem Monaden-Begriff von einer Schrift beeinflusst, die 1690 anonym erschienen war, aber aus der Feder der Philosophin Anne Conway stammte, die dem Rationalismus zugewandt war.
Empirismus vs. Rationalismus
Auch Descartes räumte wie gesagt den Sinnen eine wichtige Rolle ein. Perler fasst die Aufgaben von Geist und Sinnen bei dem Denker wie folgt zusammen (S. 88): Der Geist hat die Funktion…
- durch Erkenntnis zu unbezweifelbaren Grundsätzen zu gelangen
- von den Grundsätzen weitere abzuleiten
- Fragestellungen analytisch zu ordnen
- eine mögliche Struktur der Welt aufzuzeigen
Die Sinne wiederum haben die Funktion…
- Infos für den Wissensaufbau zu liefern
- die Grundsätze des Geistes zu bestätigen
- Fragestellungen zu konkretisieren
- die wirkliche Struktur der Welt aufzuzeigen
Daraus ergibt sich, dass der Rationalist Descartes kein Gegner empirischer Erkenntnis war. Und daraus ergeben sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Empirismus und Rationalismus.
Beide Positionen bemühen sich um die Sicherung und Festigung von Wissen. Beide wollen das, was wir die Gegenstände des Denkens nennen – unsere Wahrnehmungen, Vorstellungen, Begriffe, Ideen, Theorien – untersuchen und auf ein neues Fundament stellen.
Die Unterschiede bestehen darin, wo die Positionen ihre Priorität sehen und wie sie ihr Vorhaben angehen. Der Empirismus setzt auf Erfahrungswissen und Induktion, den Weg vom Besonderen zum Allgemeinen. Der Rationalismus setzt auf Vernunft und Deduktion, den Weg vom Allgemeinen zu abgeleiteten Wahrheiten. Logik und Mathe spielen im Rationalismus eine größere Rolle, Experimente und Naturkunde im Empirismus. 🔬
Definition von Wissen
Was ist Wissen? Sowohl aus empiristischer als auch rationalistischer Sicht lässt sich sagen: Wissen ist ein Fundus von Fakten und Theorien, die als gültig bzw. wahr anerkannt werden. Auch dann, wenn diese Fakten und Theorien bestehende Ideen umstürzen – so wie Kopernikus im 16. Jahrhundert beschrieb, dass nicht der Kosmos sich um die Erde drehe, sondern die Erde um die Sonne kreise.
Ob Wissen aber, um als Wissen zu gelten, mit der wahrnehmbaren Wirklichkeit übereinstimmen oder nur in Gedanken logisch sein muss (wie die Rechnung 2 + 2 = 4) da gehen die Meinungen auseinander. Die Frage, was Wissen sei, hängt davon ab, wie wir meinen, Wissen zu erlangen.
Der Skeptizismus ging davon aus: niemals.
Der Empirismus behält eine skeptische Grundhaltung bei. Sein Ziel besteht etwa in der Kritik von abstrakten Begriffen wie Seele. Der Empirismus schärft unseren Sinn für Vorurteile, macht auf Probleme der Sprache aufmerksam und sieht seine Aufgabe in der Erforschung der wahrnehmbaren Welt.
Der Rationalismus will die skeptische Grundhaltung überwinden und den Zweifel als Abrissbirne brauchbar machen. Ihm geht es darum, eine Methode zu finden, wie sich sicheres, unbezweifelbares Wissen gewinnen lässt – um so ein unerschütterliches Erkenntnis-Gebäude aufzubauen. Das Ziel des Rationalismus besteht darin, die ganze Welt bis hin zum göttlichen Wesen begreifbar zu machen und nicht nur die Gesetze der Natur mit Sicherheit nachzuweisen, sondern auch die Gesetze der Moral zum Beispiel.
Als Schlusswort noch ein Zitat von Hans Poser, der über die Suche nach sicherem Wissen in der Neuzeit folgendes schrieb:
Bewundernswert bleibt die denkerische Kraft, die, auf sich selbst gestellt, jene philosophischen Systeme hervorbrachte, in denen die Philosophie nicht mehr die Magd der Theologie ist, sondern in denen der Mensch, durch die kopernikanische Theorie zu einem Zufallsprodukt am Rande des Universums erniedrigt, sich selbst zum erkennenden Zentrum dieser Welt erhebt.