Philosophie, das ist die Liebe zur Weisheit. Auch bekannt als Fach für allgemeine Fragen, wie: Was ist Weisheit? Vorläufige Antwort: Weisheit ist ein tieferes Verständnis von Zusammenhängen aller Art. Aber was ist der letzte Grad einer solchen Weisheit? Wann ist diese erreicht? Darüber schreibt der Philosoph René Descartes erklärt in diesem Zusammenhang seine »provisorische Moral«. In diesem Beitrag geht’s darum, was Descartes im 17. Jahrhundert damit gemeint hat, warum die Idee dahinter heute noch gut zu gebrauchen ist, und was Werte, die letztlich allen Moralvorstellungen zugrunde liegen, überhaupt sind.
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Der Höhepunkt der Wissenschaft
Descartes war nicht nur ein Denker und Autor, sondern auch ein Forscher, der mit Licht experimentierte und tote Tiere in Teile zerlegte, um zu sehen, wie das Leben so tickt. Ein Mann der Wissenschaft also, die im 16. und 17. Jahrhundert erst so richtig ins Rollen kam. Wohin sie die Menschheit mal führen würde, das stand (und steht ja noch) in den Sternen. Doch ohne Ziel keine Richtung, also was will die Wissenschaft eigentlich, auf lange Sicht? Descartes schrieb:
Der Höhepunkt der Wissenschaft liegt in der »höchsten und vollkommensten Moral, die eine vollständige Kenntnis der anderen Wissenschaften voraussetzt und den letzten Grad der Weisheit darstellt.
AT IX-2, 14 = Dominik Perler, René Descartes, S. 231.
Das Zitat stammt aus seinen Prinzipien der Philosophie (1644) und die Übersetzung aus Dominik Perlers Buch über Descartes, das ich nur empfehlen kann und das auch hier als literarische Grundlage diente. Wer Descartes’ Werke mal in der berühmten französisch-lateinischen Gesamtausgabe von Adam & Tannery lesen oder auch nur durchblättern möchte, kann das im Internet Archive tun – einfach »oeuvres de descartes« eingeben und zack, alle Bände stehen zum Stöbern bereit. Wir behalten hier und heute den Fokus auf der provisorischen Moral (im Original: morale par provision), kein einzelnes Werk, sondern ein Thema bei Descartes. Um ihn Person geht’s ein andermal.
Hinweis: Hier geht’s zum Literaturverzeichnis.
Vollkommene vs. provisorische Moral
Descartes sagt also, eine vollkommene Moral sei nicht ein Ziel von vielen, sondern das eine Ziel, worauf alle Wissenschaften hinarbeiteten. Andersherum heißt das, was er sagt: Ohne Wissenschaften gibt es keine vollkommene Moral. Da die Wissenschaften weder zu seiner noch zu unserer Zeit am Höhepunkt oder Ziel angelangt sind, dürfen wir die genaue Beschreibung, wie eine solche vollkommene Moral denn aussehen soll, von Descartes nicht erwarten.
Was er stattdessen bereitstellt, das ist eine provisorische Moral. Das Wort »provisorisch« kommt vom lateinischen providere – voraussehen, in der Ferne sehen. Wenn wir etwas in der Ferne erkennen können, jedoch voraussehen, dass es noch länger auf sich warten lässt, obwohl es durchaus wichtig ist – dann brauchen wir eine vorläufige Lösung, bis dieses Etwas da ist. »Provisorisch« meint also: vorläufig. Und Moral ist so eine Sache, auf die sich schlecht warten lässt.
Was ist Moral?
Was ist Moral überhaupt? Moral ist ein innerer Kompass, dessen Nadel sich von einem Pol abgestoßen und zum anderen hingezogen fühlt. Wenn dieser Kompass richtig eingestellt ist, dann fühlen wir uns zum Guten hingezogen und vom Schlechten abgestoßen. Moral ist also ein Gefühl dafür, was gut und was schlecht ist. Aber was sind schon Gefühle? Der Kopf würde auch gerne wissen, was gut und schlecht und falsch und richtig ist. Nun, das lässt sich nicht so easy beantworten, aber vorläufig weise ich darauf hin, dass wir in diesem und im nächsten Beitrag über Werte sprechen werden – und dass danach bestenfalls klarer wird, was »gut« und was »schlecht« ist.
Abhandlung über die Methode (1637)
Descartes beschreibt die provisorische Moral in seiner Abhandlung über die Methode von 1637. Darin geht es, wie in späteren Werken Descartes’, um dessen Projekt, die Wissenschaften quasi einzureißen und auf ein neues Fundament aufbauen zu wollen – und schon in dieser Schrift, nicht erst in den berühmten Meditationen, findet sich übrigens sein berüchtigter Satz »Ich denke, also bin ich.« Doch auch darum geht’s ein andermal. Wer eine Unterkunft einreißt, stellt Descartes jedenfalls fest, braucht eine Bleibe für die Zwischenzeit, bis die neue Unterkunft steht.
Genauso bildete ich mir eine vorläufige Moral, damit ich in meinen Handlungen nicht unentschlossen bliebe, während die Vernunft mich verpflichtete, es in meinen Urteilen zu sein, und damit ich es nicht unterlassen würde, währenddessen so glücklich weiterzuleben, wie ich konnte.
AT VI, 22 = Philosophische Bibliothek 624, 43
Kurzum: Descartes will, während er nach der Wahrheit sucht, nicht in Untätigkeit gefangen sein. Deshalb stellt er vier Grundsätze auf, die Maximen seiner provisorischen Moral sozusagen. Diese vier Grundsätze lassen sich wie folgt zusammenfassen – Descartes will…
Die vier Grundsätze
- den Gesetzen und Gebräuchen meines Landes gehorchen und die Religion wahren, mit der er aufgewachsen sei.
- in seinen Handlungen so fest und entschlossen sein, wie er könne, auch dann, wenn letzte Zweifel bestehen blieben.
- immer versuchen, eher sich selbst zu kontrollieren als das Schicksal und eher seine Wünsche zu ändern als die Ordnung der Welt.
- seine Vernunft fördern und in der Erkenntnis der Wahrheit soweit vorankommen, wie er nur könne.
Gebrauch der Vernunft
So weit, so vage – das sind die Grundsätze der provisorischen Moral, wie sie Descartes im 17. Jahrhundert aufgestellt hat. Perler weist darauf hin, dass Descartes sich mit diesen Grundsätzen (trotz seinem Hinweis zur Religion) nicht auf ein theologisches Fundament stütze, sondern auf das Individuum. Damit grenze sich Descartes von einer mittelalterlichen Tradition ab, die das höchste Ziel des Menschen in einem glücklichen Leben nach dem Tode sah – worauf auch das moralische Handeln ausgerichtet sein sollte. Descartes hingegen nahm einen weltlichen Standpunkt ein:
Entscheidend für moralisches Handeln ist die Entwicklung des eigenen Charakters und der rechte Gebrauch der eigenen Vernunft, nicht aber die Ausrichtung auf ein (theologisch verstandenes) glückliches Leben. […] Descartes versteht [unter Glück] nicht einen besonderen glückseligen Zustand, der im jenseitigen Leben erreicht wird, sondern einen Zustand im diesseitigen Leben.
Dominik Perler: René Descartes, S. 235
Provisorische Moral 2.0
An Prinzessin Elisabeth, mit der Descartes im Briefverkehr stand, schrieb er mal: »Glück besteht in einer vollkommenen Zufriedenheit des Geistes und in einem inneren Wohlbefinden.« (AT IV, 264) Die Werte, die Descartes in seinen vier Grundsätzen vertritt, sind Folgsamkeit, Hingabe, Selbstkontrolle und Wissbegier. Hier machen wir Halt und wollen versuchen, die Idee einer provisorischen Moral in die Gegenwart zu holen – denn wie gesagt, die Wissenschaften sind ja immer noch nicht fertig mit der Welterklärung.
Wir haben einerseits so viele Fragen und so wenig Ahnung und sind andererseits mitten ins Leben geworfen und müssen ja irgendwie klarkommen und Dinge tun, ohne sicher zu wissen, was richtig ist. Darum ist so eine provisorische Moral immer noch eine tolle Idee. Obwohl Descartes’ Grundsätze zwar so allgemein formuliert sind, dass sie sich heute wie damals als Leitfaden anbieten, bleiben sie aber unbegründet und unbestimmt. Warum sollten wir uns danach richten und was genau demzufolge tun? Das sind Fragen, die jede einzelne Person bezüglich ihrer Vorstellungen dessen betreffen, wie sich Menschen verhalten müssten. Im vorherigen Beitrag habe ich etwa einfach so vorausgesetzt, ein Mensch solle an sich selbst den Anspruch stellen, gerecht sein zu wollen. Wozu sollte das gut sein? Wie lässt sich so ein Gefühl von Herzen mit dem Kopf begründen? Mal überlegen…
Warum gerecht sein?
Mit der Gerechtigkeit ist das so ’ne Sache. Das Leben ist nicht gerecht, warum sollten wir es sein? Eben, weil das Leben nicht gerecht ist. Und als kleine Zugabe aus demselben Grund, warum manche Tiere ihre Genitalien lecken: Weil wir’s können! Also das mit der Gerechtigkeit, nicht das mit den Genitalien. Gemeint ist keine höhere, gottgegebene oder metaphysisch erhoffte Gerechtigkeit, sondern eine philosophisch begründete Gerechtigkeit à la Habermas zum Beispiel – Gerechtigkeit mit Blick auf die »Kooperationsbereitschaft kommunikativ vergesellschafteter Subjekte«. Das sind wir.
Mag sein, dass du in einer Situation lebst, in der es dir egal sein kann, ob Gerechtigkeit herrscht. Dir geht’s gut. Mir geht’s auch gut, prima. Aber wir sind doch klug genug, um zu erkennen: Das kann sich ändern, von einen Tag auf andern. Und dann, wenn wir Hilfe brauchen, dann zahlt sich so eine Investition in eine gerechte Gesellschaft plötzlich aus. Macht also auch aus egoistischer Sicht Sinn, die Gerechtigkeit als Richtschnur im Leben. Wie eine Versicherung, in die wir nicht mit Geld einzahlen, sondern mit anderen Wertträgern. Aber was soll das überhaupt sein, ein Wert?
Was ist ein Wert? · Definition
Der Philosoph Georg Simmel definiert einen Wert als ein Objekt, das von einem Subjekt – du, ich, andere – als etwas erkannt wird, das in einiger Distanz und zugleich begehrenswert ist. Von Wert ist für dich also etwas, das du haben willst, aber (aufgrund der Distanz) nicht haben kannst.
Nun schreibt Simmel über Geld und Wert im Allgemeinen. Im Folgenden geht’s um eine bestimmte Art von Werten, nämlich persönliche und soziale Werte. Solche Werte will ich als Eigenschaften definieren, als Merkmale, die wir Menschen zuschreiben. Ein persönlicher oder sozialer Wert ist eine Eigenschaft, die wir haben wollen im Sinne von »uns aneignen und dauerhaft verinnerlichen«, weil sie uns für uns selbst oder die Gesellschaft nützlich, vorteilhaft, zuträglich erscheint. Persönliche Werte können Fleiß oder Wissbegier sein, die für die einzelne Person vorteilhaft sind. Soziale Werte können Respekt oder Hilfsbereitschaft sein, die sich für eine soziale Gemeinschaft als nützlich erweisen mögen.
Wenn ich Werte hier als »dauerhafte Eigenschaften« bezeichne, meine ich nicht, dass sich ein Mensch sowas wie Fleiß nicht aneignen könne, wenn dieser Wert scheinbar nicht gegeben ist. Erstens sind Werte subjektiv, also für Andere ja etwas anderes als für mich. Zweitens würde ich sagen, dass in jedem Menschen etliche Eigenschaften veranlagt sind, von denen einige zur Geltung kommen und andere verdrängt oder vergessen werden – ähnlich wie bei den Fähigkeiten, um die es im Beitrag über persönliche Stärken geht.
Eigenschaften, Fähigkeiten · Unterschied
Um eine Fähigkeit zur Geltung zu bringen, gilt es, tätig zu sein und mit bestimmten Aktivitäten diese Fähigkeit auszuüben. Um eine Eigenschaft zur Geltung zu bringen, genügt es, einfach nur zu sein, auf eine bestimmte Weise – sei es aufmerksam, fleißig, wissbegierig oder respektvoll, hilfsbereit, mutig. Nun ist ein Mensch selten nie einfach nur, sondern macht meist irgendwas. Eigenschaften und Fähigkeiten sind fest ineinander verwoben. Bei der Frage nach den Stärken steht das »Was« im Fokus, bei den Werten das »Warum«, die Motivation, die von deinen Eigenschaften ausgeht. Warum handelst du auf diese oder jene Weise? Das ist nur eine andere Art zu fragen: Was sind deine Werte? Da ist gewiss auch viel Sprachakrobatik im Spiel, für die du mich gerne schelten kannst, wenn dir bessere Bestimmungen vorschweben. Unten gibt’s eine Kommentarfunktion.
Auf die Frage nach den Werten brauchst du jedenfalls eine Antwort, wenn du dich an eine provisorische Moral halten willst, als Richtschnur für dein Handeln, solange der letzte Grad der Weisheit noch nicht in Sicht ist. Im nächsten Beitrag geht es genau darum, wie sich gesellschaftliche Grundwerte begründen und eigene Werte finden lassen. Wenn wir an das Vier-Säulen-Modell zurückdenken, dann kümmern wir uns gerade um den Bereich Soziales.
Dieser Bereich umfasst auch deine Privatsphäre, diesen mehr oder weniger geschützten, intimen Bereich für dich selbst. Denn du bist ja nicht allein, mit deinem Recht auf eine solche Privatsphäre – jeder Mensch um dich herum hat, in Abgrenzung zum gemeinsamen Raum, auch eine und ein Recht darauf. Deshalb sind dein privates Leben und deine persönlichen Werte thematischer Bestandteil unseres sozialen Miteinanders. Mehr dazu, wie gesagt, im nächsten Beitrag.