Wer spricht für Platon?

Heute kurz und bündig, die Beantwortung der Frage: Wer spricht eigentlich für Platon? Platon war ein Philosoph der griechischen Antike und gilt als einer der einflussreichsten Vertreter der abendländischen Philosophie überhaupt. Doch die meisten seiner überlieferten Werke sind in Dialogform verfasst, in denen er nicht selbst als Redner auftritt, sondern andere – allen voran seinen Lehrer Sokrates – zu Wort kommen lässt. Das wirft die Frage auf: Welche von Platons Figuren vertreten Platons Philosophie?

Bild zu Platons Philosophie, Porträt von Platon

Philosophie in dialogischer Form

Ein Dialog ist Gespräch zwischen zwei oder mehreren Beteiligten. Als Textgattung sind Dialoge in den meisten Drehbüchern und Romanen zum Beispiel enthalten. Doch es gibt eben auch philosophische Schriften, die als Dialoge angelegt sind. Bekannte Autoren philosophischer Dialoge sind etwa Giordano Bruno aus der Renaissance, Galileo Galilei aus der Neuzeit, Friedrich Schelling und Arthur Schopenhauer aus dem 19. Jahrhundert oder Ludwig Wittgenstein im 20. Jahrhundert.

Das berühmteste Beispiel ist aber nach wie vor Platon. Von dem sind wie gesagt fast nur Dialoge überliefert. Darin werden verschiedenste Themen im Verlaufe fiktiver Gespräche erläutert und gelehrt.

Ein Sprachrohr für Platons Philosophie

Das gibt Anlass zu der Annahme, dass Platon auch seine eigenen Gedanken und Ideen in eben solchen Dialogen vermittelte. Da er sich selbst jedoch nur zwei Mal erwähnt (in der Apologie des Sokrates und im Phaidon), müsste er seine Lehren demnach anderen Charakteren in den Mund gelegt haben. Daher die Frage: Wer spricht für Platon? Das heißt: Welche der vielen Figuren aus Platon Dialogen vertreten die Lehre des Autors selbst? Oder ist diese Annahme an sich schlicht falsch?

Schon Platons eigener Schüler Aristoteles und der Philosophie-Historiker Diogenes Laertius aus dem 3. Jahrhundert vermuteten, dass bestimmte Figuren aus Platons Dialogen als Sprachrohr für die Meinungen des Autors dienten. (Eine Sammlung der entsprechenden Passagen bei Aristoteles findet sich in Harold Cherniss: Aristotle’s Critisim of Platon and the Academy von 1944). Laertius schrieb:

Das aber, was nach seiner [Platons] Meinung richtig ist, gibt er durch vier Personen kund, durch Sokrates, Timaios, den Athenischen Gastfreund und den Fremdling aus Elea.

Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen, 3.52

Plato’s Mouthpiece Fallacy

Diese Position ist im Laufe der Geschichte und bis in die jüngsten Jahrzehnte hinein vielfach als Fehlschluss kritisiert worden. (Stichwort: Plato’s Mouthpiece Fallacy, zu deutsch: Platons-Mundstück-Fehlschluss.) Wer davon ausgehe, dass Sokrates für Platon spreche, wird heute zu einer Erklärung aufgefordert, warum Platon sich für die Vermittlung seiner philosophischen Lehren denn eben diese Textgattung und für gleich mehrere Charaktere als Vermittler entschieden habe, ohne sich selbst namentlich einzubringen. So etwa von der Philosophin Joanna Waugh, in: Gerald A. Press (Hg.): Who Speaks for Plato, S. 7.

Die Philosophie-Professorin Debra Nails kommt nach ihrer Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Begründungen der Annahme von Sokrates als Platons Mundstück oder Sprachrohr zu dem Schluss, dass die Argumente für diese Position »offenkundig falsch, lächerlich notdürftig und/oder philosophisch nutzlos« seien. Damit behauptet Nails nicht, wie sie betont, dass Platon keinerlei eigene Lehren vertreten hätte, oder gar, dass dessen Dialoge ohne philosophischen Gehalt seien.

Dennoch bleibe ich dabei, dass die primäre Funktion der Dialoge darin bestand, die akademische Kunst der Gesprächsführung anzuregen, indem beispielhafte philosophische Diskussionen veranschaulicht und komplexe philosophische Positionen für die Kritik dargelegt wurden.

Debra Nails: Mouthpiece Schmouthpiece, in: Gerald A. Press (Hg.): Who Speaks for Plato, S. 25 (Übersetzung DJL)

Who speaks for Plato?

Einen Überblick zu den Positionen in dieser Debatte gibt der Sammelband Who Speaks for Plato aus dem Jahr 2000. (Eine kritische Rezension zu dem Sammelband hat G. R. F. Ferrari für Bryn Mawr Classical Review verfasst.) Darin kommen auch traditionalistische Stimmen zu Wort. Die sprechen noch von Platons Lehren und erachten es für sinnvoll, philosophisches Gedankengut bestimmten Namen zuschreiben zu können. Schon allein aus dem pragmatischen Grund, dass es die Kommunikation über dieses Gedankengut erleichtert.

Insgesamt vermittelt besagter Sammelband jedoch den Eindruck, dass ein Großteil der Forschungsgemeinde zu Platon heute anderer Meinung sei. Logisch dargelegt liest sich der als Plato’s Mouthpiece Fallacy kritisierte Fehlschluss wie folgt:

Prämisse 1: c sagt p, Prämisse 2: p impliziert q, Konklusion: deshalb meinte a (der Autor, Platon) q. (oder) Prämisse 1: c sagt p, Prämisse 2: c ist Platons Sprachrohr, Konklusion: deshalb sagt Platon p.

Vgl. Gerald A. Press (Hg.): Who Speaks for Plato, S. 38.

Dass irgendein Charakter aus Platons Dialogen als des Autors Sprachrohr diene, diese Prämisse lässt sich nicht rechtfertigen, so die Kritik. Zumal verschiedene Charaktere aus Platons Werken unterschiedliche Aussagen treffen – zum Beispiel über die berühmte Ideenlehre, die Platon oft zugeschrieben wird (auch von mir, in diesem Blog).

Die Rekonstruktion von Platons Philosophie

Eine Forschungsgruppe, die als Tübinger Platonschule bekannt ist (siehe: Beitrag in Tübingens Stadt-Lexikon), hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts versucht, Platons tatsächliche »ungeschriebene Lehre« zu rekonstruieren. Also das, was Platon in seiner Akademie damals vermittelt hat. Auch wenn die Quellenlage dazu dünn und umstritten ist, zeichnet sich daraus ab, dass diese Lehre durchaus im Gegensatz zu einigen Gedanken aus Platons Dialogen steht. Einschlägig in diesem Zusammenhang ist Konrad Gaisers Philodem-Studie. Mehr dazu im ZEIT-Artikel Platon auf der Spur. Die Autoren der Tübinger Platonschule, maßgeblich Konrad Gaiser und Hans-Joachim Krämer, vertreten daher die Position, dass sich Platons Dialoge allenfalls allegorisch lesen lassen – und es eben zu nicht rechtfertigen sei, von »Platons Ideenlehre« zu sprechen.

Was dieser kurze Einblick in die Debatte rund um die Zuschreibung von Platons Gedankengut verdeutlichen soll: Die Interpretation von Dialogen als Textgattung ist mit Schwierigkeiten verbunden – und Platon ein Paradebeispiel dafür. Mich überzeugt sowohl die Position, Platons Dialoge als Lehrstücke in Sachen philosophischer Gesprächsführung zu verstehen, als auch die pragmatische Lösung, von »Platons Ideen« zu sprechen, wenn es – auf der Objektebene – die Diskussion von Platons Dialogen erleichtert. Dass dabei – auf der Metaebene – Bezug auf Aussagen letztlich literarischer Charaktere genommen wird, dürfte dann doch allen an dieser Diskussion Beteiligten bekannt sein.

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