Lost Girls · Thriller

Lost Girls wird als »Mystery-Thriller« bezeichnet. Wohl auch, weil der Film – entsprechend der Buchvorlage von Robert Kolker – diesen Untertitel trägt: An Unsolved American Mystery. Ein ungelöstes amerikanisches Mysterium. Doch dem Begriff »Mystery« haftet meist etwas Übernatürliches an. Das erscheint hier unpassend: Lost Girls erzählt von einem bis dato unaufgeklärten Kriminalfall nach wahren Begebenheiten. Es handelt sich um das Spielfilmdebüt der für zahlreiche Dokumentationen bekannten Filmemacherin Liz Garbus (What Happened, Miss Simone?). Lost Girls ist seit dem 13. März 2020 auf Netflix verfügbar. | Lesezeit: 4 Min.

Tipp: Hier gibt’s ein Video-Interview mit Liz Garbus zu ihrem Film Lost Girls.

Zur Handlung

Long Island, New York. Hier lebt Mari Gilbert (Amy Ryan) mit ihren Töchtern Sherre (Thomasin McKenzie) und Sarra (Oona Laurence). Eine dritte Tochter, Shannan (24), lebt nicht mehr daheim. Daher bemerkt Mutter Mari ihr Verschwinden erst nach einigen Tagen – im Sommer 2010. Eindringlich bemüht sich Gilbert darum, dass die Behörden den Vermisstenfall ernst nehmen mögen. Eine Suche nach ihrer Tochter läuft zunächst ins Leere. Erst im Dezember werden, durch Zufall, in der Gegend von Shannans Verschwinden eine Reihe von Leichen entdeckt – offenbar die Opfer eines Serienmörder. Obwohl keine der Leichen als Shannon identifiziert wird, treibt die Angehörigen fortan die Angst um: Ist Shannon in die Hände des Killers geraten?

Trailer zu Lost Girls

Wenn Menschen verschwinden

Es ist die Verabredung, die platzt. Der Rückruf, der ausbleibt. Das Unbehagen, das wächst. Lauter kleine, leise Dinge, bis die Gewissheit durchdringt, dass etwas passiert sein muss. Wenn Menschen verschwinden, ist die Ohnmacht der Angehörigen groß. Sehr intensiv erfahrbar gemacht hat das die Serie Six Feet Under ab der Episode Everyone Leaves (Staffel 3, 2003). Während es darin allerdings um eine große, trotz aller Streitereien doch vereinte Familie geht, ist von Zusammenhalt bei den Gilberts wenig zu spüren.

Das Drehbuch von Michael Werwie und die Regie von Liz Garbus zeichnen das ungeschönte Bild einer zerrütteten Familie. Shannans Vater spielt im Film praktisch keine Rolle. Und auch ihre Mutter, das wird in Lost Girls allzu deutlich, hatte sich längst von ihrer Tochter abgewandt und entfremdet – ein Prozess, der auch zwischen Mari und den Mädchen bereits im Gange zu sein scheint. Sarra und Sherre wenden sich, in stummer Verzweiflung über das Verschwinden ihrer Schwester, ans Internet.

Wenn Menschen sich finden

Vergangenes Jahr erst, da machte Facebook mit einer großen Werbekampagne Schlagzeilen, unter dem Motto: »Für jeden gibt es eine Facebook Gruppe.« Für Hamburger Hundehalter. Für Schwangere. Und – wie Lost Girls zeigt – für Angehörige von Mordopfern und Vermissten im Zusammenhang mit dem Long Island Serienkiller. Eine solche Gruppe kontaktieren Sarra und Sherre und überreden ihre Mutter zu einem Treffen. Der Austausch und die Aktivitäten dieser Gruppe von Betroffenen nehmen in Lost Girls viel Raum ein. Damit beleuchtet der Film einen interessanten Aspekt unserer sozial-medial vernetzten Gegenwart – unter anderem damit, denn schon das Verschwinden der jungen Frauen hing mit einer Sache zusammen, die sie alle gemeinsam hatten: Sie alle boten sich über die Anzeigenwebsite Craigslist als Prostituierte feil.

Habt ihr die News gesehen? Man hört nur: »Es (der Mörder) ist Bulle.« »Er ist Fischer.« Immer nur: »Er, er, er.« Und unsere Mädchen? Wer redet von denen? Und wenn sie es tun, sagen sie: »Prostituierte, Hure, Sexarbeiterin, Callgirl.« Nie: »Freundin, Schwester, Mutter, Tochter.« Denen ist das egal. Sie geben ihnen die Schuld.

Amy Ryan als Mari Gilbert

Wahre Begebenheit

Sie, die Medien. Sie haben dem Serienmörder den Namen »Craigslist Ripper« gegeben. Wer hinter dessen Taten steckt, ist noch heute (März 2020) nicht bekannt. Im Jahr 2011 berichteten unter anderem die FAZ und die Süddeutsche Zeitung ausführlich über den Fall. Im Jahr 2016 wurde (wovon der Film Lost Girls nicht mehr erzählt) die Mutter Mari Gilbert selbst ermordet – erstochen von ihrer eigenen Tochter Sarra. Deren psychische Erkrankung wird in Lost Girls von Sarra-Darstellerin Oona Laurence allenfalls angedeutet.

Fazit zu Lost Girls

Die Medien, die Polizei, die eigenen Familien und zuletzt irgendwelche Fremden, die Frauen in der Not nicht halfen: Der Thriller Lost Girls beleuchtet all diejenigen, die den Opfern einer grausamen Verbrechensserie Unrecht getan haben. In 95 Minuten, entsättigten Farben und bedrückender Stimmung schafft Regisseurin Liz Garbus damit ein bemerkenswertes, filmisches Denkmal der Schande, zeigt Versagen auf allen Seiten und verspätetes Bemühen um Wiedergutmachung von etwas, das nicht wieder gut zu machen ist. Anders als beim Thriller Zodiac (2007), der eine unaufgeklärte Mordserie der 60er Jahre behandelt, bleibt nach Lost Girls zu böser Letzt noch das mulmige Gefühl der zeitlichen Nähe zum Filmgeschehen.

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