Crip Camp · Doku

Als ich im Herbst 2013 versucht habe, mich an Filmschulen um einen Studienplatz für Regie zu bewerben, da konzipierte ich für eine Bewerbungsaufgabe einen Dokumentarfilm über Menschen mit Behinderung. Wie blindlings ich damals ins Thema eingestiegen bin und warum ich diesen Studienplatz, den ich nicht bekommen habe, auch nicht verdient hätte – das führte mir die Doku Crip Camp von Jim LeBrecht und Nicole Newnham jetzt eindrucksvoll vor Augen. Der Film feierte Premiere beim Sundance Film Festival im Frühjahr dieses Jahres. Er gewann dort den Publikumspreis für »Bester US-Dokumentarfilm«. Seit dem 25. März 2020 ist das Werk auf Netflix zu sehen.

Camp Jened in den Catskills

Der Titel Crip Camp bezieht sich auf Camp Jened, ein Sommerferienlager für Jugendliche mit Behinderungen. »Geleitet von Hippies«, wie Jim LeBrecht erzählt. Der Regisseur, der mit der Fehlbildung Spina bifida zur Welt kam und seit frühester Kindheit im Rollstuhl sitzt, war als Teenager selbst in diesem Camp. Gegründet wurde Camp Jened in den frühen 60er Jahren. Es lag ein paar Stunden nördlich von New York City im Catskills-Gebirge. »Dieses Camp hat die Welt verändert – und niemand kennt seine Geschichte.« Es stellt sich heraus, dass LeBrecht nicht übertreibt. Crip Camp schlägt den Bogen von einem Ferienlager hin zu einer »Handicapped Revolution« – der Bürgerrechtsbewegung, die den Americans with Disabilities Act (ADA) erkämpft hat. Und was für ein Kampf es war!

Wenn du in letzter Zeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln gefahren, oder in eine öffentliche Schule gegangen bist, […] dann sind dir sicherlich Aufzüge, Rampen und andere Vorkehrungen für Menschen mit Behinderungen aufgefallen. Möglicherweise hast du sie für selbstverständlich gehalten. Sind sie nicht einfach immer da? Jemand hat wahrscheinlich irgendwann beschlossen, dass es eine gute Idee ist, behinderten Menschen das U-Bahn-Fahren oder den Schulbesuch zu erleichtern, nicht wahr? Definitiv nicht.

Adam Chitwood (Collider)1

Trailer zu Crip Camp:

»Wie vielen nützt es?«

Buffalo Springfields Protestsong For What It’s Worth katapultiert uns direkt in eine ganz bestimmte Zeit und Stimmung: Die frühen Siebziger Jahre. Freie Liebe und Kriegsmüdigkeit. Das erwachende Bewusstsein einer jungen Generation, die merkt: Wenn wir nichts ändern, ändert sich nichts. Es sind viele und sie sind laut. Doch manchmal müssen sich die Menschen erst finden. Die Doku Crip Camp sensibilisiert dafür, wie wichtig Repräsentation ist: gesehen zu werden. Einmal, als die Camp-Romantik längst dem Kampf um Rechte gewichen ist, wird ein grau-melierter Vertreter der Verkehrsbehörde eingeblendet. Er heißt William Ronan und meint:

Es wäre unmöglich, in all die U-Bahn-Stationen Fahrstühle oder Rampen einzubauen. Die Kosten wären insgesamt horrend. Bei solchen Fragen geht es darum, wie vielen Menschen es am Ende wirklich nützt?

Eine Volkszählung aus dem Jahr 2000 kam auf 49,7 Millionen Menschen mit Behinderungen. Knapp ein Fünftel der damaligen Bevölkerung. Die kann einem natürlich »entgehen«, wenn diese Menschen nicht gesehen werden, weil das Bildungssystem sie nicht zulässt und der Städtebau sie ausgrenzt. Crip Camp gewährt einen kurzen, schrecklichen Einblick in die Willowbrook State School. Das war nur eine Institution von vielen, in denen Schwerstbehinderte unter unmenschlichen Bedingungen weggesperrt wurden vor den Augen der Öffentlichkeit.

»Was jeder Mensch will.«

Noch ehe der Film zum Politdrama wird, ist nicht Öffentlichkeit, sondern Privatsphäre ein Thema. In einer bemerkenswerten Szene unterhalten sich die Jugendlichen im Camp Jened in größerer Runde über ihre Eltern. Wie schwierig es etwa sei, mit deren Überfürsorglichkeit und der eigenen Abhängigkeit von den Eltern umzugehen. Zu Wort meldet sich auch eine junge Frau, die sich aufgrund ihrer Behinderung jedoch nur so mühsam artikulieren kann, dass niemand in der Runde ein Wort versteht. Abgesehen von einem jungen Mann, der ähnlich Mühe mit dem Sprechen hat, sich aber etwas klarer ausdrücken kann. Er scheint die Frau verstanden zu haben und sie stimmt ihm gut erkennbar zu, als er ihre Mitteilung für die Gruppe interpretiert: Sie habe sagen wollen, dass Menschen mit Behinderung auch das wollten, »was jeder Mensch will« – nämlich hin und wieder mal allein sein. Privatsphäre.

Themenvielfalt in Crip Camp

Dass so viele, wertvolle Eindrücke aus dem Feriencamp damals auf Film festgehalten wurden, ist der Gruppe »People’s Video Theater« aus New York City zu verdanken, die eine Woche in dem Camp verbracht hat. Die Archivaufnahmen aus den frühen 70er Jahren werden immer wieder kommentiert von den ehemaligen Jened-Jugendlichen. Denen, die in den 2010er Jahren noch leben, zum Teil geheiratet haben und Eltern geworden sind. Sie sprechen über Liebe und Sexualität, über Diskriminierung und die Durchsetzungskraft, die sie im Kampf um ADA bewiesen haben. Angeführt hat diesen Kampf die unglaublich charismatische Judy Heumann (»Ich bin es leid, mich für zugängliche Toiletten zu bedanken.«).

Der Film ist abwechselnd lustig und herzerwärmend, aber vor allem augenöffnend. Er deckt ein Kapitel ab, das in den Geschichtsbüchern bestenfalls unterbewertet, wenn nicht sogar völlig übersehen wurde. Er ist auch mitreißend, was die bemerkenswerten Menschen betrifft, die sich in Camp Jenet versammelt haben und diese Lektionen und dieses Gefühl der Entschlossenheit in die Welt hinausgetragen haben. –

Brian Lowry (CNN)

Produziert von den Obamas

Als Executive Producer des Films übrigens fungierten Barack und Michelle Obama. Vor zwei Jahren haben die beiden einen Vertrag mit Netflix abgeschlossen und eine Produktionsfirma gegründet, die 2019 mit American Factory ihre erste Dokumentation veröffentlichte. (Hier ein Bericht der Süddeutschen Zeitung über den Film.) Zu ihrer Motivation, mit Filmschaffenden zusammenzuarbeiten, sagen die Obamas: »Wir hoffen, den talentierten, inspirierenden und kreativen Stimmen […] zu helfen, ihre Geschichten mit der ganzen Welt zu teilen.« Das erklärte Ziel: »Mehr Einfühlungsvermögen und Verständnis zwischen den Menschen zu fördern.« Das ist ein nobles und wichtiges Anliegen. Erst recht vor dem Hintergrund, dass als Nachfolger der Obamas ein Mann ins Weiße Haus einzogen ist, der sich vor laufenden Kameras über einen Menschen mit Behinderung lustig macht (und anschließend lügt, es nicht getan zu haben). Der Kampf für eine gerechtere, menschlichere Welt geht immer weiter.  

Fazit zu Crip Camp

Meine Herangehensweise an jene Bewerbungsaufgabe der Filmschule war schon im Ansatz falsch. Ich war Anfang 20, hatte nie etwas Einschneidendes erlebt und fragte mich: Welches Thema könnte ich behandeln? Wessen Geschichte könnte ich erzählen? Crip Camp hingegen ist ein starkes Beispiel für eine dieser Geschichte, die einfach erzählt werden müssen. Und zwar von denen, die sie geschrieben haben. Die dabei waren. Dieser ausgezeichneten Doku gelingt es, ganz nah dran zu sein und trotzdem das große Ganze einzufangen, Gänsehaut-Momente und Bürgerrechts-Geschichte zu vermitteln. Erzählt aus erster Hand, von beeindruckenden Individuen, ist Crip Camp ein absolut sehenswertes Werk.

Fußnoten

  1. Übersetzt aus dem Englischen mithilfe des DeepL-Translators.

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