Dieser Beitrag befasst sich mit Fragen zum Thema sex und gender. Wir wollen wissen: Was ist das biologische Geschlecht? Was ist das soziale Geschlecht? Gibt es das schwache Geschlecht? Oder ein stärker repräsentiertes Geschlecht? Was sind der Bechdel-Test und Gender-Binarität? Diese und weitere Begriffe werden geklärt. Doch vorweg nehmen wir die biologische und historische Entstehung von Geschlecht unter die Lupe. Zurate ziehen wir Simone de Beauvoirs Werk Das andere Geschlecht (1949). 📖
Alle Seitenangaben beziehen sich auf die Werkausgabe im Literaturverzeichnis.
Biologisches Geschlecht
Es war einmal, in einem Meer vor unserer Zeit… In Das andere Geschlecht beginnt die französische Philosophin und Schriftstellerin Simone de Beauvoir mit ihrer Untersuchung der Geschlechter-Verhältnisse am Anfang. Nicht etwa bei Adam und Eva, sondern noch weiter vorne. Los geht’s mit den namenlosen Einzellern, die ohne Geschlecht und Verkehr durchs urgeschichtliche Meer wabern.
Ungeschlechtliche Fortpflanzung
Einzellige Lebewesen können sich selbständig teilen. Da braucht es zur Vermehrung keinen Sex. Ungeschlechtliche Fortpflanzung dieser Art wird als Schizogonie bezeichnet.
Vielzellige Lebewesen können sich ebenso ungeschlechtlich vermehren. Süßwasser-Polypen etwa – winzige Nesseltiere, an denen Knospen wachsen, aus denen neue Nesseltiere entstehen.
Beobachtungen haben gezeigt, daß die ungeschlechtliche Vermehrung sich unbegrenzt fortsetzen kann, ohne daß irgendeine Form von Degeneration auftritt.
Vgl. Beauvoir, S. 29
Mit diesem Hinweis möchte Beauvoir dem Gedanken entgegenwirken, evolutionären Fortschritt per se mit Überlegenheit gleichzusetzen. Die ungeschlechtliche Fortpflanzung primitiver Organismen nutzt sich nicht ab. Sie schadet nicht den Individuen oder ist irgendwie schlechter als geschlechtliche Fortpflanzung. (Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, die Denkkategorien besser und schlechter für eine Weile zu vergessen. Das Leben ist erstmal nur.)
Eingeschlechtliche Fortpflanzung
Unter dem Fachbegriff Parthenogenese (auch: Jungfernzeugung) fällt die eingeschlechtliche Fortpflanzung. Dabei gehen Nachkommen aus unbefruchteten Eizellen hervor. Die Parthenogenese ist bei manchen Pflanzen zu beobachten. Ebenso bei Blattläusen (die häufig über mehrere Generationen nur Weibchen hervorbringen), sowie bei gewissen Schnecken, Fischen, Schlangen und Eidechsen. Bestimmte Hormone sind es, die deren Eizellen vorgaukeln, sie seien befruchtet. Darauf folgt die Teilung. Ein neuer Organismus entsteht. Ohne, dass andersgeschlechtliche, befruchtende (von Menschen als männlich bezeichnete) Artgenossen dazu beigetragen hätten.
Es sind immer zahlreichere, kühnere Experimente mit Parthenogenese durchgeführt worden, und bei vielen Arten hat das Männchen sich als vollständig unnütz erwiesen.
Beauvoir, S. 29
Zweigeschlechtliche Fortpflanzung
Nächstes Szenario: Zwei Gameten verschmelzen miteinander. Gameten (auch: Geschlechtszellen) sind diejenigen Zellen, die der geschlechtlichen Fortpflanzung dienen. Es gibt Algen, bei denen die miteinander zu einem Ei verschmelzenden Gameten äußerlich nicht voneinander zu unterscheiden sind. Das nennen wir Isogamie. Es zeigt, dass Gameten grundsätzlich gleichwertig sind.
Nun sind im Laufe der Evolution aus diesen ursprünglich identischen Zellen voneinander zu unterscheidende hervorgegangen: Eizellen (Oozyten, sogenannte weibliche Geschlechtszellen) und Samenzellen (Spermatozyten bzw. männliche Geschlechtszellen).
Hier leitet uns die Sprache bereits auf Irrwege. Tatsache ist, dass es unterschiedliche Gameten gibt, aus deren Verschmelzung ein Ei entsteht. Diese Gameten jedoch unterschiedlichen Geschlechtern (männlich, weiblich) zuzuordnen, mutet voreilig an.
Beide Ausprägungen von Gameten, sowohl Ei- als auch Samenzellen, können gemeinsam in ein- und demselben Lebewesen vorkommen. Das kennen wir etwa von bestimmten Pflanzen oder Ringelwürmern. Wenn Individuen mehrere Arten von Geschlechts-Ausprägungen haben, die beiderlei Gameten hervorbringen (Ei- und Samenzellen), dann sprechen wir von Zwittrigkeit.
Zwittrigkeit bei Menschen
Hermaphroditismus ist ein Fachbegriff für Zwittrigkeit, die sich aus der griechischen Mythologie ableitet. Genauer: aus Ovids Metamorphosen. Darin erzählt der Dichter die Geschichte vom Sohn der Liebesgöttin Aphrodite und des Götterboten Hermes, nach seinen Eltern Hermaphroditos benannt. Dieser wurde eines Tages von einer Nymphe so fest umarmt, dass ihre Körper verschmolzen. Fortan trug Hermaphroditos die eigenen Geschlechts-Merkmale und die der Nymphe. Wie das aussieht, zeigt die Skulptur Schlafender Hermaphrodit. Sie geht auf eine Bronze-Plastik aus dem 2. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung zurück.
Es kommt vor, dass ein Menschen-Körper verschiedene Geschlechts-Merkmale wie Brüste und Glied ausprägt. Was nicht vorkommt: dass in einem Menschen verschiedene Gameten (Ei- & Samenzellen) produziert werden. Deshalb werden Menschen mit verschiedenen Geschlechts-Merkmalen als Pseudo-Hermaphroditen oder unechte Zwitter bezeichnet.
Nun sind pseudo bzw. unecht wertende Begriffe, in denen eine Vorstellung von richtig und falsch mitschwingt – wieder zwei menschliche Denkkategorien, die unabhängig von der Natur existieren. In der Natur ist alles richtig, was möglich ist. Dahingehend ist es verständlich, dass manche Menschen, die verschiedene Geschlechts-Merkmale haben, Label wie pseudo bzw. unecht diskriminierend finden.
Männchen und Weibchen
Viele dieser Menschen bevorzugen die Bezeichnung intersexuell. Je nachdem, wie ihre jeweiligen Geschlechts-Merkmale ausgeprägt sind, können intersexuelle Menschen schwanger werden. Doch von der Möglichkeit zur Fortpflanzung auf einen »erfüllten Sinn« zu schließen, das wäre wieder eine menschliche Bewertung. Nochmal: In der Natur soll nichts, sondern ist nur – und der Mensch bringt erst Deutung rein, wie bei einem Kunstwerk. (Bei der Kunst sind wir jedoch toleranter und nehme es gerne mal hin, wenn sie einfach keinen Sinn ergibt. 🤷🏼♀️)
Sicher ist: Beide Arten der Fortpflanzung, also Getrennt-Geschlechtlichkeit und Zwittrigkeit, kommen vor. Beide sichern die Erhaltung der Art.
[Die] Verschiedenartigkeit der Gonaden-tragenden Organismen1 scheint ebenso wie die der Gameten akzidentell (zufällig). Die Trennung der Individuen in Männchen und Weibchen stellt sich also als eine unreduzierbare und kontingente Tatsache dar.
Beauvoir, S. 29
Mit kontingent meint Beauvoir beliebig im Sinne einer möglichen, aber nicht notwendigen Trennung. Zu Beginn von Das andere Geschlecht legt die Autorin dar, wie namhafte Denker die Trennung zwischen männlich und weiblich seit jeher erklärungsfrei hingenommen oder logisch zu begründen versucht haben. Dabei schlägt sie den Bogen von der griechischen Antike (Platon, Aristoteles) über das Mittelalter (Thomas von Aquin) bis in die Neuzeit (Hegel) und ihre Gegenwart (Merleau-Ponty, Sartre).
Der Akt der Befruchtung
Im Jahr 1877 erfolgte erste Beobachtung einer Samenzelle, die in die Eizelle eines Seesterns eindringt und mit dieser zu einem Ei verschmilzt. Damit hätte die Gleichwertigkeit (wieder: eine menschliche Denkkategorie) dieser verschiedenen Geschlechtszellen bewiesen sein müssen. Doch das quirlige Verhalten der Spermien und die geruhsam wartende Eizelle wurden weiterhin fleißig interpretiert – als Zeichen für männliche Aktivität und weibliche Passivität. Beauvoir erinnert an die eingeschlechtliche Fortpflanzung, bei der Eizellen durch bloße Einwirkung körpereigener Hormone beginnen, neues Leben hervorzubringen. 🧬
Es hat sich gezeigt, daß bei manchen Arten die Einwirkung einer Säure oder eine mechanische Reizung ausreichen kann, um die Eifurchung und die Entwicklung des Embryos auszulösen. Vielleicht wird die Mitwirkung des Mannes an der Fortpflanzung eines Tages überflüssig: das ist anscheinend der Wunsch zahlreicher Frauen. Nichts aber berechtigt zu einer so gewagten Vorwegnahme, denn nichts berechtigt zur Verallgemeinerung spezifischer Lebensprozesse.
Beauvoir, S. 33
Eine Verallgemeinerung, wie die von den Verhaltensformen unserer Geschlechts-Zellen auf die Verhaltensnormen unserer Geschlechter-Rollen – wenn es etwa heißt Eizellen seien passiv, also haben Frauen ebenso beim Sex zu sein. Beauvoir warnt allgemein vor der Freude an Allegorien, während sie auf die biologischen Vorgänge bei der Befruchtung eingeht. (Und ja, ich bin mir über meine eigene Vorliebe für Allegorien und Vergleiche bewusst… das Blog liefert Beweise genug.) Auf die Rollen der Geschlechter kommen wir gleich zu sprechen. In dem Moment der Zeugung jedenfalls stellt sich, wie wir gesehen haben, keines der Geschlechter gegenüber dem anderen als stärker dar. Weiter geht’s.
Nach der Befruchtung
Aus befruchteten Eiern gehen beim Menschen (wie bei den meisten Tieren) in etwa gleich viele Individuen verschieden-artiger Ausprägungen des Geschlechts hervor, von uns Männchen und Weibchen genannt. Für beide vollzieht sich die embryonale Entwicklung identisch, bis zu einem Reifestadium, da sich Hoden oder Eierstock zu bilden beginnen. Bis zur neunten Woche hat ein Embryo einen Genitalhöcker, aus dem sich ein Glied oder Vulva bilden können. Was beim Glied größer wächst und zur Eichel wird, rutscht bei der Vulva weiter hoch und heißt Klitoris. Quasi das gleiche Ding, etwas anders positioniert.
Die Sexualtheorie zu der Zeit von Beauvoir ging bereits davon aus, dass die Wirkung bestimmter Hormone auf den Embryo dazu führt, dass dieser Zellhaufen diese oder jene Geschlechtsmerkmale bekommt, und zwar stärker oder schwächer ausgeprägt. Demnach ist es auch der Hormon-Haushalt, der zu Formen der oben beschriebenen Intersexualität führt. Wie genau die »Dosierung« der Hormone zustande kommt? Der Titel von Beauvoirs erstem Kapitel sagt es schon: Schicksal.
Hin und wieder bringt die Natur Ausprägungen wie eine deutliche größere Klitoris oder einen deutlich kleineren Glied hervor. Wenn diese »Zwischenformen« nicht mehr in die (vom Menschen erdachten) Denkkategorien passen wollen, werden sie zuweilen operativ passend gemacht. Doch Operation oder nicht, in jedem Fall nehmen wir mit unserer Sprache auf das Geschlecht Bezug und bezeichnen den damit ausgestatteten Menschen etwa als Jungen oder Mädchen. 👦🏻 👧🏽
Soziales Geschlecht (Gender)
Kommen wir zum sozialen Geschlecht. Beauvoir stellt in Das andere Geschlecht die These auf, dass die Unterschiede zwischen Frauen und Männern kein Produkt der Natur seien, sondern ein Produkt der Gesellschaft, also durch unseren Diskurs, unseren fortlaufenden kommunikativen Austausch konstruiert. Auf dieser Idee fußt das Konzept hinter dem Begriff Gender.
Gender-Begriff · Definition
In die deutsche Sprache gelangte das Wort »Gender« aus dem englischen Sprachraum. Dort diente es bereits zur Unterscheidung zwischen sex (körperliches Geschlecht) und gender (soziales Geschlecht). Auch in der deutschen Sprache ist mit Gender nicht Geschlecht in Bezug auf körperliche Merkmale gemeint. Stattdessen bezeichnet Gender die von einer Person erlebte soziale Geschlechts-Identität in Relation zu den etablierten Kategorien der Männlichkeit bzw. Weiblichkeit. Das heißt, ob eine Person sich selbst eher als männlich oder weiblich fühlt, oder zwischen oder jenseits dieser Kategorien.
Gender-Binarität · Definition
Begriff: Die Vorstellung, dass es nur zwei mögliche Geschlechts-Identitäten – Frau oder Mann – gäbe, wird als Gender-Binarität (gender binary) bezeichnet.
Körper und Identität stehen dabei in keinem zwingenden Zusammenhang. So kann sich eine Person mit männlichen Geschlechtsmerkmalen dem weiblichen Geschlecht zugehörig fühlen, also eine weibliche Geschlechts-Identität haben. Diese Aussage ist bereits geprägt von besagter gender-binären Vorstellung, dass es aufgrund des Vorhandenseins von zwei körperlich (meist) leicht unterscheidbaren Geschlechtern (männlich, weiblich) nur zwei Geschlechts-Identitäten (Frauen, Männer) geben könne.
Gender-Kohärenz · Definition
Begriff: Der Zusammenhang zwischen biologischem und sozialem Geschlecht (zuweilen samt einem damit verknüpften sexuellen Begehren) wird als Gender-Kohärenz (gender coherence) bezeichnet.
Viele Menschen setzen im Sinne der Gender-Kohärenz voraus, dass ein männlicher Körper eine männliche Geschlechts-Identität mit heterosexuell männlichem Begehren haben müsse. Doch im wirklichen Leben ist das Geschlecht als kohärente Einheit von Körper, Identität und Begehren nicht immer gegeben.
Die Geschlechts-Identität einer Person ist eine komplexe und individuelle Erfahrung. Für manche Menschen ist es schwieriger als für andere, ihre Geschlechts-Identität der Außenwelt mitzuteilen. Gründe können innere Konflikte und äußere Druck-Situationen sein, oft eine Mischung aus beiden. Obwohl »Gender« sich also auf eine individuelle Erfahrung bezieht, führt der Begriff immer wieder zu Diskussionen. Nicht selten werden diese von Menschen angestoßen, die ihre persönliche Erfahrung als Maßstab für andere Menschen nehmen.
Tipp: Hier eine Auswahl von Büchern zum Thema Gender.
- Endlich Ben: Transgender – Mein Weg vom Mädchen zum Mann (2020)
- Gender (2017) von Therese Frey Steffen
- Gender@Wissen, ein Handbuch der Gender-Theorien (2013)
Geschlechterforschung (Gender Studies)
Seit den 1980er Jahre benutzt die Geschlechterforschung (Gender Studies) den Begriff Gender, um zu analysieren, wie die gesellschaftliche Konstruktion von Unterschieden zwischen Frauen und Männer vollzogen wird. Bei den Gender Studies handelt es sich um eine interdisziplinäre, also fachübergreifende Forschungs-Richtung, die das biologische und soziale Geschlecht als Forschungs-Gegenstand untersucht, im Kontext von Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft.
Was ist Gender-Mainstreaming? Dazu bietet die Bundeszentrale für politische Bildung ein Dossier an.
Einen Einschnitt in den Gender Studies stellte Judith Butlers Werk Das Unbehagen der Geschlechter (1990) dar. Die Philosophin vertritt darin die These, dass nicht nur das soziale Geschlecht (gender), sondern auch das körperliche Geschlecht (sex) vom gesellschaftlichen Diskurs geprägt sei – etwa indem wir, wie beschrieben, mit unserer Sprache Bezug auf den menschlichen Körper nehmen. Mehr dazu im Beitrag über Judith Butler.
Sowohl Beauvoir als auch Butler weisen auf den Einfluss von Medien bzw. kulturellen Werke hin. Letztlich lässt sich jedes Buch, jeder Film, jede Serie zum Gender-Thema in Relation setzen. Es gibt solche, die Gender-Stereotypen (feste Vorstellungen davon, was und wie Frau und Mann zu sein haben) aufgreifen und festigen, sowie solche, die Gender-Stereotypen bewusst in Frage stellen, parodieren oder reflektieren.
Was ist der Bechdel-Test?
Relevant ist auch mediale Repräsentation. Auf gender-binärer Basis heißt das: Sind Frauen und Männer in den Medien gleichermaßen vertreten? Oder stehen Frauen im Schatten von Männern, was Dialog-Anteil und Hauptrollen angeht? Um das herauszufinden, hat die Autorin und Comic-Zeichnerin Alison Bechdel den Bechdel-Test entwickelt (auf Grundlage einer Idee von Liz Wallace). Der Test kommt 1985 in Bechdels Comic Dykes to Watch Out For (D: Bemerkenswerte Lesben) zur Sprache. In der entsprechenden Szene erzählt eine Figur namens Mo:
Ich gehe nur in Kinofilme, die drei Voraussetzungen erfüllen. 1) Es müssen darin wenigstens zwei Frauen vorkommen, die (2) miteinander reden, über (3) etwas anderes als einen Mann.
Die drei Kriterien für den Bechdel-Test sagen rein gar nichts über die Qualität eines Films aus. Sie dienen nur dazu, ein Werk auf die Repräsentation weiblicher Figuren hin zu überprüfen.
Wenn ein Film den Bechdel-Test besteht, ist es deshalb noch kein feministischer Film. Und wenn ein Film den Bechdel-Test nicht besteht, ist es deshalb kein Frauen-feindlicher oder schlechter Film (und kann sogar dennoch ein durchaus feministischer Film sein, siehe: Beitrag auf Bustle). Doch wenn sehr viele Filme eines Franchises oder Jahres den Bechdel-Test nicht bestehen, ist das zumindest bedenklich.
Gender und Alter in 2.000 Drehbüchern
Einen Schritt weiter gegangen sind Hanah Anderson und Matt Daniels, indem sie 2.000 Drehbücher hinsichtlich Gender und Alter untersucht haben (zur Studie). Die Ergebnisse zeigen, dass der Bechdel-Test durchaus auf eine reale Problematik hinweist. Männer sind (Stand 2020) in Filmen stärker repräsentiert als Frauen. Das bringt uns zum sprichwörtlich schwachen Geschlecht. Was hat es damit auf sich? Zunächst betrachten wir die Frage vom biologischen Standpunkt.
Das schwache Geschlecht
Simone de Beauvoir klettert in ihrem Werk Das andere Geschlecht die evolutionäre Stufenleiter des tierischen Lebens hinauf. Wir passieren Mücken, von denen das Männchen nach der Befruchtung stirbt, und Schmetterlinge, deren Weibchen keine Flügel haben, während Männchen mit Flügeln, Fühlern und Scheren ausgestattet sind. 🦋 Bei etlichen Tierarten lege das Männchen in Sachen Befruchtung mehr Initiative an den Tag als das Weibchen.
Das Männchen sucht das Weibchen auf, greift es an, betastet es, packt es und zwingt ihm die Paarung auf; […] Auch wenn das Weibchen provozierend oder willig ist, ist es in jedem Fall das Männchen, das es nimmt: es wird genommen. Das trifft oft buchstäblich zu: entweder weil das Männchen entsprechende Organe hat oder weil es stärker ist, packt es das Weibchen und hält es fest; ebenso vollführt es aktiv die Kopulations-Bewegungen. Bei vielen Insekten, bei den Vögeln und den Säugetieren dringt es in das Weibchen ein. Dadurch erscheint das Weibchen als eine vergewaltigte Inferiorität (Unterlegenheit).
Beauvoir, S. 43ff.
Zur äußerlichen Fremdherrschaft komme eine innere Entfremdung durch das befruchtete Ei, das sich im Uterus festsetzt und zu einem anderen Organismus heranwächst. Beauvoir beleuchtet die Auswirkungen von Schwangerschaft und Mutterschaft, von Zyklus und Wechsel-Jahren auf den weiblichen Körper. Sie kommt zu dem Schluss:
[…] von allen weiblichen Säugern ist die Frau am tiefsten sich selbst entfremdet, und sie lehnt diese Entfremdung am heftigsten ab; bei keinem ist die Unterwerfung des Organismus unter die Fortpflanzungs-Funktion unabwendbarer und wird mit größeren Schwierigkeiten angenommen.
Beauvoir, S. 56
Im Werden begriffen
Die in Das andere Geschlecht beschriebenen Gegebenheiten des Körpers sind so wichtig, weil der Körper als »Instrument für unseren Zugriff auf die Welt« maßgeblich ist.
Trotzdem lehnt Beauvoir die Vorstellung ab, dass all die Belastungen für den weiblichen Körper mit einem festgelegten Schicksal einhergingen. Denn während sich Tiere geradezu statisch beschreiben lassen – das Verhalten eines Schimpansen der Gegenwart gleicht dem eines Schimpansen vor Hunderten, wenn nicht vielen Tausenden von Jahren 🙈 – gilt das für H. sapiens nicht.
Menschen sind ständig im Werden begriffen, betont Beauvoir. Sie seien niemals fertige Wesen. Die Philosophin schreibt, in den späten 1940er Jahren:
Die Frau ist keine feststehende Realität, sondern ein Werden, und in ihrem Werden müßte man sie dem Mann gegenüberstellen, das heißt, man müßte ihre Möglichkeiten bestimmen: was so viele Diskussionen verfälscht, ist, daß man die Frau, wenn man die Frage nach ihren Fähigkeiten stellt, auf das beschränken will, was sie gewesen ist, was sie heute ist. Tatsache ist, daß Fähigkeiten nur sichtbar werden, wenn sie verwirklicht worden sind.
Beauvoir, S. 59
Und Tatsache ist, dass eine Untersuchung der Fähigkeiten niemals abgeschlossen wäre. Fähigkeiten, versteht sich, die bei uns Menschen längst nicht von körperlichen Gegebenheiten abhängig sind.
Schwäche zeigt sich als solche nur im Licht der Ziele, die der Mensch sich setzt, der Instrumente, über die er verfügt, und der Gesetze, die er sich auferlegt. […] Wo die Sitten Gewalt-Anwendung verbieten, kann die Muskelkraft keine Herrschaft begründen: […] ökonomische und moralische Bezüge sind nötig, damit der Begriff Schwäche konkret definiert werden kann.
Beauvoir, S. 59f.
Fazit und Ausklang
Diese Bezüge stellt Beauvoir her. In ihrem 900 Seiten umfassenden Werk Das andere Geschlecht nimmt sie die Kunst- und Kulturgeschichte unter die Lupe, die kindliche Entwicklung und Erziehung. Sie untersucht etablierte Argumente und Klischees und liefert damit eine Lektüre, die über Jahrzehnte Bestand hat und noch heute Antworten auf Fragen gibt, die nicht in 30 Sekunden zu beantworten sind. Es sei denn, du fragst Frauke Petry – da wird die These vom schwachen Geschlecht kurzerhand abgenickt.
Ich habe nichts dagegen, dass Frauen das schwache Geschlecht sind, weil wir objektiv anders sind als Männer.
Vgl. Frauke Petry im Mai 2019
Das schwache Geschlecht ist ein Mythos. Er soll Autorität schaffen, wo es an Rechtfertigung für diese Autorität fehlt. »Objektiv anders«, wie Petry es nennt, ist jeder Mensch von seinem Nächsten, anders mit schwach zu verknüpfen ist absurd – erst recht für eine Partei, die sich selbst als Alternative (also als anders) bezeichnet. Aber aus der AfD ist Petry ja längst ausgetreten. Bevor ich mich dazu hinreißen lasse, in den letzten Zeilen das Thema zu wechseln, überlasse ich ein Kommentar zu Petry lieber der YouTuberin Maggie Herker: Das schwache Geschlecht spricht.