Zirbeldrüsen-Hypothese von René Descartes

In diesem Fachbeitrag 🎓 behandeln wir Descartes’ Dualismus hinsichtlich dessen Theorie zur psychophysischen Wechselwirkung. Damit ist die Interaktion zwischen Körper und Geist gemeint. | Lesezeit: 17 Min.

Hinweis: Einen systematischen und historischen Kontext zum Substanzdualismus gibt’s im Beitrag zum Leib-Seele-Problem.

Einheit in Descartes’ Dualismus

In den Meditationen über die Erste Philosophie wurde Descartes’ Dualismus begründet. Also seine Annahme zweier Substanzen und ihre Verschiedenheit voneinander. Für sein Modell zur Wechselwirkung ist von Interesse, wie wiederum die Einheit der real verschiedenen Substanzen gegeben und die Interaktion zwischen ihnen möglich sein soll. Im Zuge der Sechsten Meditation geht Descartes auf die Einheit von Körper und Geist ein. Und zwar, indem er eine Antwort auf jene Frage von Aristoteles gibt, »ob die Seele auf diese Art Vollendung für den Körper ist, wie der Schiffer für das Schiff.«1 Descartes verneint dies.

Durch diese Empfindungen des Schmerzes, des Hungers, des Durstes usw. lehrt die Natur auch, daß ich zu meinem Körper nicht etwa nur so hinzugefügt bin, wie ein Seemann sich auf einem Schiff aufhält, sondern daß ich mit ihm auf engste verbunden und gewissermaßen vermischt bin, so daß ich mit ihm zu einem einzigen Etwas zusammengesetzt bin.

AT VII, 81 = PhB 598, 88

Ein Mensch nimmt eine Verletzung seines Körpers nicht rein geistig wahr, so wie der Seemann einen Schaden am Schiff feststellen würde. Stattdessen seien Schmerzen, Hunger oder Durst »nichts anderes als gewisse verworrene gedankliche Zugriffe, die aus der Vereinigung und gewissermaßen der Vermischung des Geistes mit dem Körper herrühren.«2 Die Verworrenheit sinnlicher Empfindungen ist damit »eine Bedingung für die Klarheit dieser Erkenntnis [der Einheit von Körper und Geist], die inhaltlich nichts anderes ist als Einsicht in die Tatsache der Verworrenheit«.3

Ein Engel im Menschenkörper

Diese Einsicht könne dann als klare und deutliche Erkenntnis gelten, wenn die wahrgenommene Verworrenheit als unaufhebbar festgestellt werde, eben weil Körper und Geist aufs engste miteinander verbunden seien. Zum Verständnis der Einheit weist Wohlers auf ein weiteres Bild von Descartes hin. Es stammt aus dessen Brief an Regius vom Januar 1652.4 Es ist das Bild eines Engel im Menschenkörper. Ein solcher Engel würde, »mit dem vollen Gebrauch der Vernunft ausgestattet in den Körper« gefahren, dessen Nervenregungen wie Bewegungen einer Außenwelt erfahren. Die Außenwelt jenseits des Körpers könne er jedoch gar nicht wahrnehmen, weil er »den Wust verworrener Sinnes-Empfindungen zur Gegenstands-Konstitution« nicht zu nutzen verstünde. Der Körper wäre somit sein Gefängnis.

Die Pointe ist […], daß wir über die […] Außenwelt deshalb besser informiert sind, weil die […] Bewegungen unseres Körpers, die die Bewegungen [in] der Außenwelt an unsere Seele übermitteln, als solche für uns unbewußt bleiben. Deshalb bedarf es […] der Abstraktion, wenn wir unseren […] Körper als Objekt der äußeren Welt betrachten wollen.

Vgl. PhB 663, XCVI.

Ein winziger Teil des Gehirns

In der Sechsten Meditation sieht Descartes den Nachweis erbracht, »daß der Geist mit dem Körper substantiell vereint« sei.5 Warum aber etwa »aus einer nicht näher zu beschreibenden Schmerzempfindung eine Traurigkeit« im Gemüt entstehe, dazu schreibt Descartes schlicht: »weil ich dies so von der Natur gelernt habe.«6 Weiterhin bemerkt er: »Der Geist wird nicht von allen Teilen des Körpers unmittelbar affiziert, sondern lediglich durch das Gehirn, vielleicht sogar auch nur von einem winzigen Teil des Gehirns, […] in dem sich, […] der Gemeinsinn befindet«.7

In den Meditationen vermag Descartes diesen »winzigen Teil« noch nicht zu benennen. Er bleibt vage, wenn er feststellt: »Jede einzelne der Bewegungen, die sich in jenem Teil des Gehirns vollziehen, der unmittelbar den Geist affiziert, erregt im Geist jeweils nur eine einzige Empfindung.«

Deshalb kann man sich in diesem Zusammenhang nichts besseres ausdenken, als daß diese den Geist unmittelbar beeinflussende Bewegung in ihm von allen Empfindungen, die sie erregen kann, gerade die erregt, die am meisten […] zur Erhaltung der Gesundheit des Menschen beiträgt. […] Auf dieselbe Weise entsteht in der Kehle eine die Nerven der Kehle und mit deren Hilfe die inneren Nerven des Gehirns bewegende Trockenheit, wenn wir trinken müssen. Diese Bewegung affiziert im Geist die Empfindung des Durstes […].

AT VII, 87f. = PhB 598, 94f.

Die Zirbeldrüsen-Hypothese

Descartes’ Dualismus und insbesondere seine Gedanken zur Interaktion zwischen Körper und Geist zogen Reaktionen nach sich. Wie jene Frage Elisabeths von der Pfalz an Descartes, die ich im Beitrag zum Leib-Seele-Problem zitiert habe. In der Korrespondenz zwischen der Prinzessin und dem Philosophen kann laut Wohlers die »Keimzelle« der Schrift gesehen werden, die Descartes 1649 zum Druck freigab8 – ein Jahr vor seinem Tod und ein Jahr nach seiner Bemerkung an Burman, dass die Frage zur Interaktion schwierig zu beantworten sei.

Die Passionen der Seele

In dieser letzten Schrift – Le Passions de l’âme (zu Deutsch: Die Passionen der Seele, hier erhältlich) – geht Descartes auf besagte Frage ein und legt sein Modell zur Wechselwirkung zwischen den Substanzen dar. Als eine Passion der Seele bezeichnet Descartes eine Empfindung, die stets mit einer Aktion des Körpers korreliert, der auf die Seele einwirkt. Umgekehrt kann auch die Seele agieren, sodass die Wirkung dem Körper passiert.9 Dieser hängt in allen Bewegungen und Wahrnehmungen von den Nerven ab, »die so etwas wie […] kleine Röhren sind, die alle vom Gehirn kommen und genau wie das Gehirn selbst eine gewisse Luft oder äußerst feinen Wind enthalten, den man die Lebensgeister nennt.«10 Hier sei an die Korpuskel-Theorie erinnert, die Descartes vertritt.

Die feinen Teile des Blutes bilden die Lebensgeister, und zu diesem Zweck muß ihnen im Gehirn nur eine einzige Änderung widerfahren, nämlich daß sie dort von den anderen […] Teilen des Blutes getrennt werden. Denn was ich hier Spiritus nenne, sind nur Körper mit der einzigen Eigenschaft, sehr kleine Körper zu sein und sich schnell zu bewegen, wie die Teile einer aus einer Fackel austretenden Flamme.

Vgl. AT XI, 334f. = PhB 663, 8f.

Die Hypothese zur Epiphyse

In Artikel 8 erklärt Descartes, dass es unbekannt sei, »auf welche Weise diese Lebensgeister […] zu den Bewegungen und den Sinnen beitragen, noch was das körperliche Prinzip ist, das sie wirken lässt.«11 Er stellt klar, »daß die Seele wirklich mit dem gesamten Körper verbunden ist«, es jedoch »gleichwohl einen Teil gibt, in dem sie […] ihre Funktionen mehr als in allen anderen ausübt«.12 Diesen Teil identifiziert Descartes »eine gewisse sehr kleine, in der Mitte seiner Substanz gelegene Drüse«13 – die Zirbeldrüse (Epiphyse). Die mittige Lage ist es auch, die Descartes als Argument für seine berühmt-berüchtigte Hypothese anführt.

In Artikel 32 beschreibt er das doppelte Vorkommen aller »anderen Teile des Gehirns« sowie Sinnesorgane und die sich daraus ergebende Notwendigkeit, dass es einen Ort geben müsse, »an dem die […] von einem einzelnen Objekt durch die doppelten Organe […] kommenden Eindrücke sich zu einem sammeln können, bevor sie die Seele erreichen« – und es gebe »im Körper keine andere Stelle, an der sie genauso vereint werden können, wenn nicht in der Folge dessen, daß sie es in dieser Drüse werden.«

Doch eine Lokalisierung der psycho-physischen Wechselwirkung zwischen den Substanzen ist noch keine Erklärung derselben. Im nächsten Abschnitt werden die Kritikpunkte rund um Descartes’ Ansatz thematisiert.    


Kritik an Descartes’ Dualismus

Viele hundert Jahre lebhafter Rezeptions-Geschichte haben einen gewaltigen Korpus an Kritik zu Descartes’ Schriften hervorgebracht, bezogen auf die ganze Breite seines Schaffens, von der philosophischen Anthropologie bis zur Zirbeldrüsen-Hypothese und Descartes’ Dualismus allgemein. Die Meditationen und ihre Gottesbeweise nehmen in der Rezeption eine zentrale Stellung ein. Doch um den Ansätzen von Descartes und Leibniz in der vorliegenden Thesis einigermaßen gleiches Gewicht einzuräumen, beschränkt sich dieser Mittelteil allein auf Probleme und Kritik an Descartes’ substanzdualistischem Ansatz, der sich über die Meditationen hinaus »wie ein Leitmotiv« durch Descartes’ Gesamtwerk zieht und von Poser prägnant zusammenfasst wird:

Die von Gott geschaffene Welt besteht aus […] zwei Arten von Substanzen, nämlich erstens aus körperlichen Substanzen, die Ausdehnung als wesentliches Attribut haben, und zweitens aus geistigen Substanzen, die Denken als wesentliches Attribut haben. Diese beiden Arten von Substanzen sind real und nicht etwa nur begrifflich voneinander verschieden. Sie können aber miteinander verknüpft sein, wie das Beispiel des Menschen zeigt; denn der Mensch ist nichts anderes als eine Verbindung aus einer körperlichen und einer geistigen Substanz.

D. Perler: René Descartes, S. 169

Kritik vor und unabhängig von Leibniz

Die damit scheinbar aufgegebene »Einheit des Menschen« war nur ein Aspekt der Kritik, die etwa Voetius an Descartes übte. Zu Einwänden calvinistischer Theologen kamen auch solche aus katholischer Feder, die im Zuge der Transsubstantiations-Debatte (mehr dazu im Beitrag über Leibniz) zur Indexierung von Descartes’ Schriften und Verboten gegen seine Lehre führten14 – und dies, obwohl Descartes doch sichtlich bemüht gewesen ist, wichtige Einwände vonseiten Gelehrter noch vor Publikation der Meditationen einzuholen und zu erwidern.

In einem ersten Schritt soll am Beispiel von Arnauld, Voetius und Malebranche die zeitgenössische Kritik an Descartes thematisiert werden, ehe im zweiten Schritt »die Achillesferse des Substanz-Dualismus«15 zu untersuchen ist: die Interaktionsthese von der psycho-physischen Wechselwirkung. Gegen diese These hat Leibniz gleich mehrere Kritikpunkte hervorgebracht, die wiederum Gründe für die Entwicklung seines eigenen Alternativkonzepts erkennen lassen.

Antoine Arnauld und das Dreieck

Ein exemplarischer Einwand gegen Descartes’ Dualismus stammt von Arnauld aus den Objectiones Quartæ. Er greift vermittels eines Beispiels das Existo-Argument an, das sich – unter Berücksichtigung entsprechender Passagen aus Discours und Principia, in denen dieses Argument ebenfalls entwickelt wird – auf »einen gemeinsamen Kern«16 bringen lässt:

  • Ich kann nicht bezweifeln, dass ich als denkendes Ding existiere. [P1]
  • Ich kann daran zweifeln, daß ich ein ausgedehntes Ding bin. [P2]
  • Also bin ich kein ausgedehntes, sondern ein rein denkendes Ding. [K]

Ähnlich kann Descartes’ erstes Argument für den psycho-physischen Dualismus aus der Sechsten Meditation auf folgende Formel verkürzt werden: Wenn ich X klar und deutlich ohne Y erfasse, dann kann X ohne Y existieren.17 Prämisse 2 besagte, dass sich die Seele klar und deutlich oder Körper denken lasse, was zur Konklusion 1 führte, nämlich dass die Seele ohne den Körper existieren könne.

Arnauld wendet eine solche Argumentation auf die Kenntnis über Eigenschaften eines Dreiecks an18 – dass nämlich jemand ein rechtwinkeliges Dreieck (D) denken könne, ohne den Satz des Pythagoras (S) zu (er)kennen, woraus sich die Formel ergibt: Wenn jemand D klar und deutlich ohne S denken kann, dann kann D ohne S existieren. In letzter Konsequenz hieße das, das ein rechtwinkeliges Dreieck von einem Dreieck, auf welches der Satz des Pythagoras zutrifft, verschieden wäre. »Ich sehe nicht, was hier erwidert werden könnte, außer daß dieser Mensch das rechtwinklige Dreieck nicht klar und deutlich erkannt hat«, so Arnauld, der die Täuschung auf Descartes’ Dualismus überträgt: Ob es nicht sein könne, dass zum denkenden Ding eben doch ebenso das Merkmal der Ausdehnung gehöre?

Descartes’ Erwiderung an Arnauld

Descartes’ Erwiderungen auf diesen Einwand erfolgen in drei Punkten, von denen der dritte das überzeugendste Gegenargument darstellt. Obwohl der Begriff eines rechtwinkeligen Dreiecks den Satz des Pythagoras zwar nicht enthalte, »muß [der Begriff] es doch an sich haben, daß irgendein Verhältnis zwischen dem Quadrat über der Grundlinie und den Quadraten über den Seiten als ihm zugehörig eingesehen wird.«19 Demzufolge wäre S, als mögliches Verhältnis der Seitenquadrate, beim Gedanken an D nicht auszuschließen, eben weil nicht klar einsehbar ist, »daß es nicht zu ihm gehört […]. Hingegen ist im Begriff des Körpers überhaupt nichts enthalten, was zum Geist gehört, und im Begriff des Geistes nichts, was zum Körper gehört.« Damit disqualifiziert er Arnaulds Vergleich als nicht adäquat.

Auf die Frage hin, wie sich etwas als vollständiges Ding erfassen lasse, schreibt Descartes: »Was […] ein Körper ist, das sehe ich vollständig ein, allein indem ich annehme, er sei ausgedehnt. […] Und umgekehrt sehe ich ein, daß der Geist ein vollständiges Ding ist«, wenn es denkt.20 Perler präzisiert in diesem Sinne das Argument von Descartes folgendermaßen: »Wenn ich X mit seinen wesentlichen Eigenschaften klar und deutlich ohne Y mit dessen wesentlichen Eigenschaften erfasse, dann kann X von Gott auch ohne Y geschaffen sein.«21

Kritik von Voetius und Malebranche

An den essentialistischen Aspekt knüpft, der Sache nach, ein Punkt aus der Kritik von Voetius an, dass Descartes’ Dualismus den Menschen auf eine bloß »akzidentelle Kombination von zwei Substanzen« reduziere und »damit die Einheit des Menschen« preisgebe.22 Descartes erklärte Körper und Geist zwar zur substanziellen Einheit23 und betonte, der Mensch sei ein »ens per se«,und kein bloßes »ens per accidens«24 (also in seinen Substanzen »derart miteinander verbunden […], daß [diese] nicht alle ihre Funktionen unabhängig voneinander ausüben können«25). Dennoch ergibt sich aus der Frage nach der Beschaffenheit einer Einheit unterschiedlicher Substanzen eines »der Hauptprobleme des Cartesianismus im 17. Jahrhundert«.26

Ein weiteres Problem liegt in Descartes’ These zur Interaktion zwischen den Substanzen, die bereits Zeitgenossen veranlasste, über Alternativen nachzudenken. Eine solche stellt der Okkasionalismus dar, der u. a. von Malebranche entwickelt wurde. Dieser radikalisierte Descartes’ Unterscheidung von formaler und objektiver Realität als Modi des Seins (S. 14) zu verschiedenen Seinsweisen: »Ideen existieren objektiv im Geist Gottes und werden uns von Gott als Inhalte offenbart«, eine »Schau der Dinge in Gott«, in der etwas »als etwas Bestimmtes wahrgenommen [wird]. Empfindungen werden nicht durch die wahrgenommenen Gegenstände kausal hervorgerufen, sondern Gott erzeugt sie selbst bei Gelegenheit der wahrgenommenen ausgedehnten Gegenstände.«27 Diese Theorie geht ihrerseits mit Problemen einher, auf die zurückzukommen ist.

Leibniz’ Kritik an Descartes’ Dualismus

Descartes’ Konzept einer kausal-interaktionistischen psychophysischen Wechselwirkung ordnet Leibniz dem »systeme de l’influence«28, oder: Influxionismus zu, demzufolge, »es eine unmittelbare wechselseitige Übertragung von Informationen zwischen Körper und Seele gibt, die ohne Mitwirkung einer dritten, zwischengeschalteten Größe erfolgt.«29 Gegen dieses Modell bringt Leibniz vier Einwände vor.30

Der erste Kritikpunkt

Erstens sieht Leibniz keine Möglichkeit einen »Aufschluß darüber zu geben, wie der Körper etwas in die Seele hinüberführen kann und ebenso vice versa, noch wie eine Substanz mit einer andern erschaffenen Substanz in Verkehr treten kann. Herr Descartes hatte, so weit sich aus seinen Schriften ersehen läßt, das Spiel bei diesem Punkte aufgegeben« – auf welche Weise jedoch körperliche Bewegungen ausgedehnter Materie einen Einfluss üben sollen auf geistige Regungen einer nicht-ausgedehnten Substanz, das bleibt »unbegreiflich« (inconcevable).31 Busche nennt es den erklärungstheoretischen Kritikpunkt, gefolgt vom ordnungstheoretischen, denn:

Der zweite Kritikpunkt

Zweitens stelle Leibniz fest, dass diese nicht zu erklärende Wechselwirkung auch den Gesetzen der Natur widersprechen würde: »[E]in direktes Eingreifen seelischer Qualitäten oder Kräfte […] in den physischen Kausalnexus« verstoße »gegen den Satz von der Erhaltung des Gesamtquantums der bewegenden Kräfte.«32 Descartes zufolge verändern mentale Eigenschaften in der Epiphyse die Bewegungsrichtung kleinster Materieteilchen, ohne Einfluss auf deren Geschwindigkeit zu üben. Gemäß der cartesianischen Physik »bleibt nur die Summe der Bewegung – genauer gesagt, die Summe des Impulses, des Produktes von Masse und Geschwindigkeit […] – erhalten.«33 Die Bewegungsrichtung jedoch sei keine physikalische Erhaltungsgröße und nicht durch die Gesetze der Physik bestimmt, womit der Geist widerspruchsfrei auf den Körper einwirken kann – im Rahmen der Descartes’ bekannten Physik.

Leibniz’ Discours de métaphysique

»[D]as liegt daran, daß man zu seiner Zeit noch nicht das Naturgesetz kannte, welches die Erhaltung derselben Gesamtrichtung in der Materie beinhaltet«, bemerkt Leibniz in M § 80 der Monadologie, ohne ins Detail zu gehen. In seiner Abhandlung Discours de métaphysique (1685-86) argumentiert er ausführlicher gegen Descartes’ Gleichsetzung der Bewegungs-Quantität mit der bewegenden Kraft. Anhand eines herabfallenden Körpers weist er darauf hin, dass die Kraft erhalten bleibe, aber die Bewegungs-Quantität, »das heißt die Geschwindigkeit multipliziert mit der Größe des bewegten Körpers«, eben nicht.34 Die Wichtigkeit dieser Unterscheidung betont Leibniz im nächsten Abschnitt: Die Bewegung eines Körpers sei, »genau und formal« als reine Ortsveränderung betrachtet, nichts Reales – und eine Feststellung der Veränderungen infolge einer solchen Bewegung, je nach Blickwinkel, gar nicht möglich.35

Aber die Kraft oder […] Ursache dieser Veränderungen ist etwas Realeres, und es gibt genug Begründung, um sie eher dem einen Körper als dem anderen zuzuschreiben. […]

Nun ist diese Kraft von Größe, Gestalt und Bewegung unterschieden, und man kann von daher urteilen, daß alles, was unter Körper begriffen wird, nicht einzig in der Ausdehnung besteht, wie es sich unsere Modernen einreden.

Vgl. PhB 537, 51ff.

Der dritte Kritikpunkt

Mit den »Modernen« sind die Anhänger der cartesianischen Philosophie gemeint. Weiter bemängelt Leibniz an Descartes’ Modell der unmittelbaren psycho-physischen Wechselwirkung, mit dem psychologischen Kritikpunkt, »daß es das Paradigma der mechanischen Einwirkung unzulässig auf die Psyche« übertrage und so »die Eigengesetzlichkeit (Autonomie) des Seelischen« missachte.36

Leibniz’ »drei Beweise«

Leibniz führt »drei Beweise« (trois preuves) für die Autonomie der Seele an: »Der erste Beweis […] ist, […] dass es nicht von der Seele abhängt, sich immerzu Gefühle zu geben, die sie mag, da die Gefühle, die sie haben wird, von denen abhängen, die sie zuvor gehabt hat.«37 Sei es nicht wahr, dass die unangenehmen Gefühle der Seele von etwas kämen, das nicht von ihrem Wille abhinge? Frühere Erinnerungen oder (im Extremfall etwa: traumatische) Erfahrungen des Seelenlebens können aus diesem Grund nicht »hinreichend aus der aktuellen Affektion der leiblichen Sensorien erklärt werden.«38

Ein zweiter »Beweis« lautet, »dass der gegenwärtige Zustand einer jeden Substanz eine natürliche [und notwendige] Fortsetzung ihres [eigenen] früheren Zustandes« sei. Leibniz schreibt: »Wenn die Natur der Substanz […] frei sein soll, wird auch diese natürliche Fortsetzung frei und freiwillig sein«, was für die Seele als Substanz in besonderem Maße gelte, »weil die Seele eine Vollkommenheit ihrer Natur ausübt, welche die Freiheit ist.« Im vulgären System (systeme vulgaire), wie Leibniz den Influxionismus bezeichnet, sei der Zustand der Seele eine Folge von Einflüssen des Körpers.39

Als dritten Beweis nennt Leibniz eine Liebe oder Loyalität zur Ordnung (loy d’ordre), die es in den Wahrnehmungen ebenso gäbe, wie bekanntermaßen in den Bewegungen, die inneren Gesetzlichkeiten unterworfen sind:

Wenn wir uns auf die Tatsache verlassen, dass die Gesetze der Bewegung aufgrund göttlicher Weisheit festgelegt sind […], genügt es zu sagen, dass die Wahrnehmungen, […] genauso verknüpft sind wie diese Gesetze, die sie in der Reihenfolge der effizienten Ursachen ausdrücken. Aber die Reihenfolge der freiwilligen Wahrnehmungen, d. h. die der endgültigen Ursachen, steht im Einklang mit der Natur des Willens.

Vgl. G IV, 580 = Übersetzung DL

Der vierte Kritikpunkt

Einen vierten und letzten, sog. kausaltheoretischen Kritikpunkt gegen den Influxionismus sieht Busche bei Leibniz hinsichtlich der »nicht-mechanischen Formen von Kausalität, in denen spontane Wirkungen auftreten.« Busche schreibt: »Wenn die Wirkung des Körpers auf die Seele nach dem mechanistischen Typ als Einflößen aufgefaßt wird, ist dies unvereinbar mit Spontaneität (Selbsttätigkeit) und erst recht mit menschlicher Freiheit«.40

In den Manuskripten zu Leibniz’ Projekt einer Scientia generalis – als übersichtliche Darstellung der Elemente der Wissenschaften – ist Freiheit als »Spontaneität eines intelligenten Wesens« definiert, und Spontaneität (lat. spons – eigener Antrieb, Wille) als »eine Kontingenz ohne Zwang, spontan ist, was weder notwendig noch erzwungen ist.«41 Ein solches spontanes Wirken könne der Influxionismus weder erklären noch überhaupt erlauben.

Drei Systeme zur Interaktion

Nun ist dieser Influxionismus, den Leibniz als »eine spezielle Erklärung zur psychophysischen Kausalität, […] der ganzen Tradition bis Descartes zuschreibt«42, aber selbst für unmöglich halte43 nur eines von insgesamt »drei Systemen zur Erklärung des zwischen der Seele und dem Körper aufzufindenden Verkehrs« (trois systemes pour expliquer le commerce qu’on trouve entre l’ame et le corps). Als ein weiteres nennt er das »systeme des causes occasionelles«, womit jener Okkasionalismus gemeint ist, den unter anderem Malebranche vertrat.

Dieses System geht, wie erwähnt, mit der Annahme einher, »dass es zwischen geistigen und körperlichen Zuständen systematische Entsprechungen gibt«, die darauf zurückzuführen sind, »dass Gott selbst jeweils gezielt in den Ablauf der geistigen bzw. körperlichen Phänomene eingreift«44 – bei Gelegenheit also (lat. occasio). Der Okkasionalismus kann hier nur insofern berücksichtigt werden, als sich das dritte System davon abgrenzt.

Schon in besagter Passage M § 80 der Monadologie, in der Leibniz Descartes’ Unkenntnis des Impulserhaltungs-Gesetzes kommentierte, fügte er knapp hinzu: »Wenn er davon Kenntnis gehabt hätte, wäre er zu meinem System der [präetablierten] Harmonie gelangt.«45 Bei diesem dritten System, dem Systeme de l’Harmonie preétablie, handelt es sich also um Leibniz’ eigenes Erklärungsmodell zur psychophysischen Wechselwirkung.

Fazit zu Descartes’ Dualismus und Leibniz’ Kritik

Esfeld stellt die Frage, ob die Aussage über Descartes’ Annahme von Leibniz’ System allein bei Kenntnis des Impulserhaltungs-Gesetzes glaubhaft sei. Er beantwortet sie negativ. Der Grund läge in den naturphilosophischen Prinzipien beider Denker. Während Descartes die Materie als res cogitans definiert, ist Leibniz zufolge »nicht raumzeitliche Ausdehnung das wesentliche Charakteristikum der Materie, sondern Kraft (dynamis, vis, conatus)«.46 In Briefen mit Arnauld47 und de Volder48 beschreibt er sein Konzept von Kraft, das nicht nur für Materie, sondern auch für den Geist gelte.

Leibniz vertrete »somit keine rein kognitive Charakterisierung des Mentalen, sondern denkt dessen kognitiven Charakter mit kausaler Kraft zusammen.« So seien geistige und körperliche Eigenschaften nicht, wie bei Descartes, grundverschieden, sondern hätten eine Gemeinsamkeit: »Sie sind beide Kräfte.« Daher kommt Esfeld zu dem Schluss: »Descartes hätte nicht bereits Leibniz’ System der präetablierten Harmonie vertreten können, weil ihm zufolge Geist und Materie nichts miteinander gemeinsam haben.«49

Was es mit Leibniz’ Ansatz genau auf sich hat, und inwiefern sich seine präetablierte Harmonie tatsächlich als eine plausible Alternative für die Systeme des Influxionismus und des Okkasionalismus erweist, damit befasst sich abschließend das dritte Kapitel.

Hinweis: Seitenangaben & Siglen in den Fußnoten beziehen sich auf die im Literaturverzeichnis aufgeführten Werkausgaben.

Fußnoten

  1. Otfried Höffe (Hg.): Aristoteles. Die Hauptwerke. S. 183.
  2. AT VII, 81 = PhB 598, 88
  3. Vgl. PhB 663, XCV.
  4. Vgl. AT III, 493.
  5. Vgl. AT VII, 228 = PhB 598, 235.
  6. AT VII, 76 = PhB 598, 83.
  7. AT VII, 86 = PhB 598, 93.
  8. Vgl. PhB 663, XVII.
  9. Vgl. AT XI, 327 = PhB 663, 3.
  10. AT XI, 332 = PhB 663, 7.
  11. AT XI, 333 = PhB 663, 7.
  12. AT XI, 351f. = PhB 663, 21.
  13. AT XI, 352 = PhB 663, 22.
  14. Vgl. Dominik Perler: René Descartes, S. 250f.
  15. Ansgar Beckermann: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, S. 56.
  16. Ansgar Beckermann: Descartes’ metaphysischer Beweis für den Dualismus, S, 61.
  17. Vgl. Peter Markie: Descartes’s Gambit. S. 212.
  18. Vgl. AT VII, 201f. = PhB 598, 210.
  19. AT VII, 225 = PhB 598, 233.
  20. Vgl. AT VII, 121 = PhB 598, 129.
  21. Dominik Perler: René Descartes, S. 176.
  22. Ebd., S. 246.
  23. Vgl. PhB 598, u. a. 228, 236 = AT VII, u. a. 219, 228.
  24. AT III, 493.
  25. Dominik Perler: René Descartes, S. 213.
  26. Ebd., S. 246.
  27. Johannes Haag, Markus Wild: Philosophie der Neuzeit. Von Descartes bis Kant, S. 59.
  28. G IV, 520.
  29. Helga Spriestersbach: Die Substanz bei Spinoza und Leibniz, S. 97.
  30. Vgl. Hubertus Busche (Hg.): Monadologie, S. 63. (nachfolgend HB)
  31. Vgl. G IV, 483 = Robert Habs (Hg.): Kleinere philosophische Schriften, S. 49f.
  32. HB, S. 63.
  33. Michael Esfeld: Descartes, Leibniz und das Problem der mentalen Verursachung, S. 99f.; mit Bezug auf AT VIII, 61f., 65f.
  34. Vgl. PhB 537, 49.
  35. Vgl. PhB 537, 51.
  36. HB, S. 64.
  37. G IV, 579 = Übersetzung DL.
  38. HB, S. 64.
  39. Vgl. G IV, 579f. = Übersetzungen DL.
  40. Vgl. HB, S. 64.
  41. Vgl. G VII, 108 = Übersetzung DL.
  42. HB, S. 63.
  43. Vgl. G IV, 520.
  44. Ansgar Beckermann: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, S. 44.
  45. PhB 537, 145.
  46. Michael Esfeld: Descartes, Leibniz und das Problem der mentalen Verursachung, S. 101f.
  47. Vgl. G I, 72f.
  48. Vgl. G II, 169ff.
  49. Michael Esfeld: Descartes, Leibniz und das Problem der mentalen Verursachung, S. 102.

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