Amerika, 2018. Binnen weniger Stunden hat This Is America im Internet heftige Diskussionen angestoßen. Allein am ersten Tag sammelte das Musikvideo über 10 Millionen Klicks und verursachte ein Medien-Echo, das – von Loblied über Schock bis hin zum Zerriss – lautstark durch die News-Welt hallt. Nachfolgend eine Bestandsaufnahme am Tag danach, 8. Mai, sowie eine Analyse bzw. Interpretation dieses Musikvideos von Childish Gambino: Welche Bedeutung – oder vielmehr: Bedeutungsebenen – hat This Is America?
Zwischen den Schüssen
Die Diskussionen, die von This Is America angestoßen wurden, betreffen größtenteils das Thema Waffengewalt. Obwohl alle Argumente auf dem Tisch liegen und bekannt sind, nimmt diese Diskussion kein Ende und ist nach dem vergangenen Wochenende (mal wieder) brandaktuell. Eigentlich. Uneigentlich ist der normale Gang der Dinge (nämlich, dass Donald Jodocus Trump auf einer NRA-Bühne am Freitag irgendwas Empörendes sagt) ja längst nicht mehr der Rede wert. Warten wir stattdessen aufs nächste Attentat, den nächsten Amoklauf, um dann auf ein Neues zu sagen:
Jetzt hört doch auf, das Thema Waffengewalt sofort zu politisieren! Erst trauern wir um die Opfer und schicken den Angehörigen unsere Gebete und danach können wir reden.
US-Republikanische Abgeordnete nach x-beliebigem Massaker
Dass jetzt zum Beispiel gerade so ein »Danach« (oder vielmehr: »Dazwischen«) wäre, wird wohl deshalb übergangen, weil es ja stets etwas anderes gibt, das Lärm macht. Und ist es außerhalb der eigenen Grenzen, umso besser! Der Iran-Deal! Nordkorea! Darüber lässt sich doch prima streiten. Im schlimmsten Fall müssen wir nicht unsere Gesetze und Gewohnheiten ändern – sondern können die von anderen fernsteuern. Denn wir tragen ja Verantwortung.
Exportierte Waffen
Warum wir, wenn es doch um Waffengewalt in Amerika geht? Vielleicht, weil Amerika (wenn auch mit schwindender Kraft) den Westen repräsentiert. Die amerikanische Kultur ist in unserer (deutschen oder europäischen oder einfacher: alltäglichen) Kultur omnipräsent. Insofern ist Kritik an Amerika immer auch Selbstkritik. In Sachen Waffengewalt gilt das in besonderem Maße, aufgrund der großen Einflussnahme deutscher Waffenhersteller in Amerika.(efn_note)Siehe: Waffen bauen, Einfluss nehmen: deutsche Waffenfabrikanten in den USA, MONITOR vom 12.10.2017(/efn_note)
Ich schreibe diese Zeilen gerade in Aachen, drei Autostunden entfernt vom Standort des Gesellschaftsverbandes L & O Holding, zu dessen Unternehmen auch SIG Sauer gehört. Dieser Waffenhersteller exportiert nicht bloß nach Amerika und unterstützt finanziell dortige Waffenlobbys (auch im US-Wahlkampf und damit indirekt den von diesen Lobbys gepushten Kandidaten Donald Trump). SIG Sauer produziert selbst auf amerikanischem Boden und gehört zu den fünf größten Waffenherstellern innerhalb der USA.
Zum Massaker in Las Vegas (59 Tote) brachte der Attentäter deutsche Waffen mit. Beim Blutbad in Orlando (49 Tote) mordete der Schütze mit einer deutschen Waffe. SIG Sauer ist stolz darauf, das amerikanische Law Enforcement ausrüsten zu können. Amerikanische Polizisten haben 992 Menschen allein im Jahr 2018 erschossen. In Deutschland waren es 11 Menschen, bei einem Viertel der Einwohnerzahl. (Nachtrag: Ich habe diese Daten am Ende des Jahres aktualisiert.) Aber Zahlen sind ohnehin Schall und Rauch in einer Diskussion, in der es nur um eines zu gehen scheint: Gefühle. Ob Stolz, Hass, Wut, Angst, Gefühle geben den Ton an.
Donalds Timing
Am Freitag sprach Donald Trump wie gesagt auf einer Veranstaltung der Waffen-Lobby NRA. Obwohl er zuvor versichert hatte, er wolle sich um strengere Waffengesetze bemühen, hat der demente Clown das bei dieser Gelegenheit erwartungsgemäß vergessen oder bewusst verschwiegen. Falsches Publikum. Stattdessen schilderte er, wie Frankreich die Ausmaße des Attentats in Paris im Jahr 2015 leicht hätte eindämmen können, wenn die Bevölkerung nur bewaffnet gewesen wäre – indem er (zur Erinnerung: der US-Präsident) in die Rolle der Attentäter schlüpfte und spielerisch darstellte, wie sie »einen nach dem anderen« ohne Gegenwehr erschießen konnten (zu sehen in diesem Video ab Minute 03:50).
Das sind die Momente und Szenen, die mir mangels Schlagfertigkeit nicht einfallen, wenn’s hierzulande heißt »so schlimm könne dieser Trump ja nicht sein«. Doch, kann er, ist er, aber wir haben uns daran gewöhnt. Deshalb hat Trumps Auftritt die Waffengewalt auch nicht zurück ins Gespräch gebracht. Und wenn Donald, der Pseudo-Politiker, es nicht schafft, dann muss Donald, der Vollblut-Künstler ran. Die Rede ist von Donald Glover – so der bürgerliche Name des Rappers Childish Gambino.
Der Song This Is America
Einen Tag nach Trumps hochnotpeinlicher Ansprache vor der Waffenlobby, trat Childish Gambino in der Fernsehshow Saturday Night Live (SNL) auf und präsentierte dort den Song This Is America. Es beginnt mit Gospelgesang und harmlosen Zeilen:
This Is America / We just wanna party / Party just for you / We just want the money / Money just for you / I know you wanna party / Party just for me / Girl, you got me dancin’…
Die gesamten Lyrics mit Interpretationen gibt’s via Genius
Lyrics zu This is America
Wir wollen nur feiern, Geld und tanzen. Das ist Amerika. (Die Lyrics in deutscher Sprache gibt’s ebenfalls via Genius.) Zum ersten Refrain kommt der Break, der heitere Klang vom Auftakt wird düster und die Gesellschaftskritik deutlicher: Eigentlich geht’s nur ums Geld. Aber es wäre nach wie vor viel zu subtil, um irgendwie Wellen zu schlagen, erst recht in der Waffen-Debatte. Warte mal: Waffen? Die werden doch kaum thematisiert – in dem Song. Und damit beginnt das genial inszenierte Spiegelbild der Gesellschaft, die hier kritisiert wird.
Tipp: Auch Michael Moores Doku Fahrenheit 11/9 fängt das Amerika der Gegenwart auf bedrückende Weise ein. (Link folgt)
Das Video zum Song
Erst im Musikvideo zu This Is America, das am selben Tag wie Donald Glovers SNL-Auftritt veröffentlicht wurde, sind Waffen zu sehen. Und sie kommen zum Einsatz. Die Art und Weise, wie dies geschieht, ist der Grund für den Wirbel um das Video. Denn die Waffengewalt, die im Song nicht vorkommt (nicht zur Sprache kommt, nicht im Gespräch ist), die findet in grausamer Beiläufigkeit statt. Bevor du weiterliest, solltest du das Video auf dich wirken lassen. Grausam ist es, ja, aber nicht grausamer als die Realität, vor der wir uns nicht in Watte packen sollten. Hier ist das Video:
Ein Musikvideo als radikale Geschichtsstunde: […] This is America ist nach langer Zeit mal wieder ein Musikvideo, über das die ganze Welt diskutiert. Aber was will uns der Künstler damit eigentlich sagen?
Tim Sohr (Stern)
Analyse zu This is America
Die Dramaturgie des vierminütigen Musikvideos lässt sich nach klassischem Erzählmuster darstellen, wie folgt:
- Prolog, bis zum Schuss, dem auslösenden Ereignis (Min. 00:50)
- Akt 1, bis zum Schwenk auf den Kirchenchor (Min. 01:40)
- Akt 2, gipfelt im Flüchten aller Tänzer*innen (Min. 02:40)
- Akt 3, bis zum Schwenk ins Schwarz (Min. 03:40)
- Epilog, die Flucht durch die Nacht
Im Prolog ist die Welt noch in Ordnung. Die Gitarrenklänge und der Gospelgesang stellen das angestimmte Lied in die lange Tradition von Black Music. Doch die heile Welt währt nicht lange. Wo zuvor der Gitarrist saß, sitzt plötzlich ein Mensch mit einem Sack über dem Kopf – und Childish Gambino erschießt ihn.
Bei diesem ersten Schuss, den der Rapper in den Nacken des verhüllten Menschen abfeuert, steht er in einer markanten Pose da. Sie erinnert nicht zufällig an Jim Crow. Das war in den USA des 19. Jahrhunderts die geläufige Bezeichnung für den stereotypischen Schwarzen, tanzend, singend und nicht besonders schlau. Jim Crow gehörte zum begrifflichen Instrumentarium in der systematischen Rassendiskriminierung gegen afroamerikanische Menschen.
Heute ist der Stereotyp vom jungen schwarzen Mann der Gefährder mit der Waffe in der Hand, als der Childish Gambino hier auftritt. Das ist nur eine von sehr, sehr vielen Referenzen, die sich in dem Video zu This Is America finden lassen. So erinnert der Waffeneinsatz im zweiten Akt überdeutlich an das Attentat in Charleston im Jahr 2015, als ein junger weißer Mann neun Afroamerikaner in ihrer Kirche erschoss.
Die Würde der Waffe ist unantastbar
Die Tatsache, dass Waffen in diesem Amerika mehr Wert beigemessen werden als Menschenleben, verpackt das Video im beiläufigen Geschehen. Nach den Todesschüssen werden die Mordwaffen in das rote Tuch eines Dienstjungen gebettet, der extra dafür heran eilt. Die Leichen bleiben liegen oder werden weggezerrt.
Und immer wieder lenkt die Kamera den Blick zurück auf Childish Gambino und dessen irre Grimassen. Er ist umgeben von Tänzer*innen, die ihn zuweilen anzuhimmeln scheinen. Denn nicht vergessen, es läuft ja noch das coole, subtil gesellschaftskritische Lied mit dem Spaßfaktor, während drum herum unkommentiert die Gewalt tobt – Symptom einer vom Kapitalismus gepeitschten Gesellschaft, in der finanzstarke Unternehmen ungestört Waffen in den Umlauf bringen können. Die Kassen klingeln lauter als die Knarren knallen.
When you pause the video but the gunshots don’t stop – this is America.
YouTube-Kommentar
Zum Höhepunkt des zweiten Aktes schrecken die Tänzer*innen um Gambino herum plötzlich auf und ergreifen die Flucht. Zurück bleibt allein der Rapper, der die Arme ausstreckt, als hielte er eine Waffe – doch seine Hände sind leer. Wie die Hände so vieler schwarzer Männer, die auf Verdacht hin von der Polizei erschossen werden.
So lässt sich dieser Moment dann auch deuten: Der Rapper verstummt und das Leben ringsum ist fort. Vielleicht ist der Mann, der sich da in Ruhe eine Zigarette anzündet, gerade gestorben. Wenn er als nächstes ein Setting voller leerer Autos betritt (ein Bild, das manchen Tweets zufolge an die L.A.-Unruhigen im Jahr 1992 erinnert), treffen wir auch jenen verhüllten Menschen wieder. Er spielt Gitarre, während Gambino in gespenstischer Atmosphäre weitertanzt.
Am Ende die Angst
Im alptraumhaften Ausklang des Videos ist blanke Angst in den Augen des Rappers zu sehen, der durch die Finsternis rennt. Als schwarzer Mann Mitte 30 gehört Donald Glover aka Childish Gambino zu der Personengruppe, die es besonders oft trifft, wenn amerikanische Polizeikräfte von ihren Waffen Gebrauch machen. Wer die Aufnahmen von Bodycams gesehen hat, die solche Morde zuweilen aufzeichnen, kann die Angst nachvollziehen. Ich erinnere an den grauenvollen Tod von Philando Castile, der bei einer Wagenkontrolle im Beisein seiner Familie erschossen wurde und am Tatort vor laufender Kamera verblutete.
Der Epilog von This is America lässt sich auch als Referenz an den Hypnose-Thriller Get Out (2017) von Jordan Peele lesen. Dazu schreibt Tim Sohr vom Stern-Magazin:
Kein Zufall ist es […] wahrscheinlich, dass »Get Out«-Schauspieler Daniel Kaluuya die Performance von »This Is America« bei »Saturday Night Live« am Wochenende anmoderierte – sondern eher der Moment, in dem sich der Kreis dieser radikalen Kulturgeschichtsstunde schließt.
Stimmen der Vernunft
Zu dem Tod von Philando Castile äußerte sich auch Trevor Noah in seiner Daily Show, die eigentlich der Comedy gewidmet ist. Oft sind es ehrlich gesagt die »Comedians«, deren Beiträge zu aktuellen Themen mir erhellender und empathischer erscheinen, als die der klassischen Berichterstattung. Etablierte Nachrichtensender wie CNN und MSNBC sind nicht die »Fake News«, als die Trump sie abstempeln will. Doch in ihrer Suche nach Schlagzeilen fehlt es ihnen oft an Einfühlungsvermögen und Verantwortungsbewusstsein. Auch das ist kein neues Phänomen.
Trevor Noahs Vorgänger, Jon Stuart, ist 2004 einmal als Gast in der in der TV-Show Crossfire (CNN) aufgetreten. Darin sollte es der Idee nach um politische Debatte gehen. In der Praxis driftete diese Debatte jedoch oft in pure Hetze seitens der Moderatoren ab (darunter Tucker Carlson, nachträglicher Lesetipp zu diesem Typen: der ZEIT-Artikel Waffenbrüder vom 28. März 2020). Es war Jon Stuart, eigentlich als lustiger Gast für Zwischendurch gedacht, der den Moderatoren während der Live-Sendung in allem gegebenen Ernst sagte: Diese Show schade Amerika.
Hier ist, was ich euch sagen wollte, Jungs: Hört auf damit. Ihr tragt Verantwortung gegenüber dem öffentlichen Diskurs und ihr versagt kläglich.
Jon Stuart
Drei Monate später wurde das Format Crossfire – nach Diskussion, die Stuarts Kommentar losgetreten hat – tatsächlich komplett eingestellt. Dem Komiker sei Dank.
Dumme Hoffnung
Donald Glover ist ebenfalls ein Comedian. Seine Karriere begann 2005 als Autor für The Daily Show und damit für eben jenen Jon Stuart. Auf YouTube wurde Glover durch Derrick Comedy bekannt (kleiner Leckerbissen daraus: Girls Are Not To Be Trusted). Hierzulande kennen wir Donald Glover vor allem aus Serien wie Community (in der er den wundervollen Kindskopf Troy Barnes spielt) und Atlanta (in der er auch Regie führt). Kurzum: Der Typ ist ein absolutes Multi-Talent.
Ich wünschte, sein Musikvideo This Is America hätte dieselbe Wirkungskraft wie einst Jon Stuarts Auftritt in Crossfire – und die Bewaffnung der US-Bevölkerung würde in drei Monaten einfach eingestellt werden. Denn sie schadet Amerika. Aber das ist wohl naiv.
Nachtrag, zwei Jahre später…
When there’s a virus that affects the respiratory system but everyone’s hoarding toilet paper. This is America.
YouTube-Kommentar