Gott und der Staat

Dieser kurze Beitrag behandelt die Schrift Gott und der Staat (1871) von Michail Bakunin, dem russischen Revolutionär und Anarchisten des 19. Jahrhunderts. Es geht um Bakunins Religionskritik und seine Gedanken zu Idealismus und Materialismus.

Das Volk, schrieb der russische Revolutionär Bakunin, sei »leider noch sehr unwissend.« Stand: 1871. Im März dieses Jahres wurde sein Büchlein Gott und der Staat, aus dem diese Feststellung stammt, neu aufgelegt (die Ausgabe, auf die ich mich im Folgenden beziehe, ist hier erhältlich). Obwohl sich Bakunin darin redlich bemüht hat, das Volk aufzuklären, scheint es immer noch unwissend zu sein. Oder mehr denn je? Oder alles nicht so wild? Mal sehen. 🤓

Kurze Biografie zu Bakunin

Wer war Bakunin? Eine prägnante Passage zu seiner Person:

Bakunin wuchs in den endlosen Weiten Russlands auf. Er war groß und dick, er aß viel, trank viel, rauchte viel und redete viel. Vor allem aber war er von einem unbezwingbaren Freiheitsdrang beseelt.

Georg von Wallwitz (FAZ)

Kurz zum Werdegang: Als Michail Alexandrowitsch Bakunin erblickte der später große und dicke Raucher und Redner 1814 die Welt. 🌏 Seine Familie, russischer Adel, erzog ihn einerseits liberal, andererseits erlebte der Junge seinen Vater als Gutsherrn mit über 500 Leibeigenen. Mit 14 Jahren ging’s zur Artillerieschule, mit 18 wurde er (bereits Leutnant) Zeuge von der Brutalität, mit der die russische Regierung den polnischen Aufstand niederschlug. Ob es da bereits um seine Gesinnung geschehen war? Michail kehrte dem Militär den Rücken zu, widersetzte sich dem Vater und wurde Mathelehrer in Moskau, wo er dann auch Philosophie studierte. Dieses Studium setzte er in Berlin, als eine weitere Station auf seinem umtriebigen Leben.

Er zog weiter nach Paris, wo er sich bald in sozialistischen und anarchistischen Kreisen einen Namen machte. Mit Marx verband ihn dort ein zwiespältiges Verhältnis. Einerseits erkannte Bakunin an, dass dieser ein bedeutender theoretischer Kopf im Dienste des Sozialismus war. Andererseits hielt er dessen Lehre für im Grunde autoritär.

Georg von Wallwitz (FAZ)

…und mit Autoritäten tut Bakunin sich schwer. Damit kommen wir zu seiner Religionskritik.

Gott und der Staat · Zitate und PDF

Der Himmel der Religion ist also nichts als eine Lichtspiegelung, in der der Mensch, von Unwissenheit und Glauben überspannt, sein eigenes Bild wiedersieht, aber vergrößert und verkehrt, d.h. vergöttlicht.

Bakunin, in: Gott und der Staat, S. 16f.

Tipp: Die anarchistische Onlinebibliothek stellt die Schrift Gott und der Staat von Michail Bakunin als PDF zum Download bereit.

Zurück zur Unwissenheit des Volkes. Voller Inbrunst prangert Bakunin – wir können nicht jeden seiner Schritte nachvollziehen, aber irgendwo auf seinem Weg hat er die Religion verachten gelernt – den Gottglauben an. Es sei die Frommheit leichtgläubiger Menschen gewesen, so Bakunin, durch die sich der Himmel bereichern konnte »durch das, was der Erde geraubt wurde, und konsequenterweise wurden die Menschheit, die Erde desto elender, je reicher der Himmel wurde.«

Dass sich die Unwissenheit des Volkes über dieses Missstand so sattelfest hält, schreibt er den Anstrengungen aller Regierungen zu, »welche diese Unwissenheit sehr begründeterweise für eine der wichtigsten Bedingungen ihrer eigenen Macht halten.« Sie sind es auch, welche die Erdlinge berauben, während sie den Himmel reich reden.

Gedanken zur Gegenwart

Ich möchte die Behauptung wagen, dass das Volk immer noch »sehr unwissend« sei. Als Repräsentant dieser unwissenden Masse kann ich nur mutmaßen und ja, unsere Zeit tickt anders als das späte 19. Jahrhundert Bakunins. Religiös motivierte Macht-Demonstrationen kommen in den 2010er Jahren eher »von unten« als vonseiten der Regierung – zumindest im Westen. Und zwar in Form von Terror-Anschlägen. Über solche reden wir – zumindest meiner Wahrnehmung nach – dieser Tage sehr viel, als ein gewaltiges Problem unserer Zeit.

Nebenher scheinen wir – wieder: meiner Wahrnehmung nach – zu ignorieren, wie groß der Kuchen geworden ist, an dem alle knabbern. Kein Wunder, vielleicht, weil alle nur einen kleinen Teil des Kuchens sehen. 🍰 Aber das ist doch der bemerkenswerterer Unterschied zwischen damals und heute: Der Kuchen ist inzwischen längst so groß, dass wir ihn so fair verteilen könnten, wie es sich Bakunin und andere Anarchisten seiner Zeit in ihren krümeligsten Träumen nicht hätten vorstellen können.

Wenn’s uns dabei bloß nicht so verflixt gut ginge. Oder: mir. Ich will da niemanden mit reinziehen. Mir geht es zu gut, gestern, heute, morgen vermutlich. Ich bin zu satt, zu zufrieden und zu ignorant, um mich um jenen versteckten Großteil des Kuchens zu kloppen. Und sei es eben für die vielen Mitmenschen, die zu wenig bis gar nichts vom Kuchen abkriegen. Tagsüber mache ich meine paar Sachen, die mich bei Laune halten (gerade: Blog, später: Netflix?). Zwischendurch glotze ich zweitausendmal binnen vierundzwanzig Stunden auf mein Handy. Dabei wollte ich nie so ein verdammter Materialist sein. Habe mich immer für einen Idealisten gehalten… als ich noch naiv davon ausging, Idealisten sind die Guten. Pah!

Gott und der Staat | PDF

Die idealistische Abstraktion, Gott, ist ein ätzendes Gift, welches das Leben zerstört und zersetzt, fälscht und tötet. Der Hochmut der Idealisten, der kein persönlicher, sondern ein göttlicher ist, ist unbesiegbar und unversöhnlich.

Bakunin, in: Gott und der Staat, S. 50

Gott und der Staat beginnt mit einer Frage: Wer recht habe, die Idealisten oder die Materialisten? »Jede Entwicklung«, sagt Bakunin, »schließt die Verneinung des Ausgangspunktes ein.« Das heißt: Eine materielle Motivation strebe ein ideelles Ziel an. Eine ideelle Motivation wiederum lässt sich nur mit materiellen Mitteln durchsetzen. In Bakunins eigenen, ehrlich harten Worten:

Der Materialismus [geht] von der tierischen Stufe aus, um die Menschheit zu bilden; der Idealismus geht von der Gottheit aus, um die Sklaverei zu errichten und die Massen zu aussichtsloser Vertierung zu verurteilen. […] Der Materialismus leugnet den freien Willen und führt zur Einführung der Freiheit; der Idealismus verkündet den freien Willen im Namen der Menschenwürde und gründet die Autorität auf den Ruinen aller Freiheit.

Bakunin, in: Gott und der Staat, S. 31

Bakunin über Deutschland als Feindbild

Als Beispiel für »das Reinste, Übersinnlichste, was es an Idealismus gibt« führt Bakunin das Deutschland seiner Zeit an.  In seinen internationalen Beziehungen sei Deutschland (schreibt er ein knappes halbes Jahrhundert vor dem Ersten Weltkrieg) »systematisch eindringend, erobernd, immer bereit, seine eigene freiwillige Knechtschaft auf die benachbarten Völker auszudehnen.«

Seit es sich als einheitliche Macht bildete, wurde es eine Drohung, eine Gefahr für die Freiheit von ganz Europa. Der Name Deutschland bedeutet heute brutalen und triumphierenden Sklavensinn.

Bakunin, in: Gott und der Staat, S. 29

Bakunin hat Hitler nicht erlebt. Aber er hat ihn vorhergesehen. Hitler, den Idealisten. Also… sind Materialisten die Guten? Oder war das Naive an meinen Gedanken die Einteilung in »die Guten«, »die Bösen«? Auf dieser offenen Frage will ich es für heute mal beruhen lassen.

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